Berührt

(Predigt zu Mk 5, 35ff. im September 2020 in der Ev. Andreasgemeinde Niederhöchstadt)

Heute geht es um Kraft und Schwachheit. Um Stillstand und Bewegung. Um Einsamkeit und Berührung. Um Verzweiflung und Zuversicht.

Steigen wir ein in die biblische Geschichte von der Tochter des Jairus und der blutflüssigen Frau.

Jesus ist, wie so oft, mit seinen Jüngern im Fischerboot übern See gefahren. Kaum dort angekommen, versammelt sich eine große Menschenmenge um ihn.

Das ist das Setting, jetzt kommt die Geschichte:

… Es kam einer der Synagogenleiter dazu. Mit Namen Jairus. Er sieht Jesus, wirft sich vor ihm nieder und fleht ihn an: „Meine kleine Tochter liegt im Sterben. Bitte komm! Leg ihr die Hände auf, damit sie gerettet wird und am Leben bleibt.“

Der Mann, der hier zu Jesus kommt, gehört zur Dorfprominenz. Er ist Vorsteher des Ortes und der Gemeinde. Er steht somit für ein bestimmtes System, die Wirklichkeit zu deuten, Probleme zu lösen und die Gesellschaft zusammen zu halten. Aber jetzt ist er mit einem Problem konfrontiert, dass er nicht lösen kann. Es geht ans Eingemachte. Es geht um die Grundsäulen seiner Existenz. Es geht um das Leben seiner Tochter. Darum wirft er sich vor Jesus nieder. In aller Öffentlichkeit. Es ist eine Kapitulation. Und zugleich ein Glaubensbekenntnis: „Leg ihr die Hände auf, dann wird sie gerettet.“ Jesus zögert nicht. Er geht mit ihm.

Wenn ich diese Worte höre: „Er geht mit ihm“ – so atme ich innerlich bereits auf. Die Vorstellung, dass Jesus, Inbegriff aller Lebenskraft, mit ihm geht, ist aus meiner Sicht ein Vorwegnehmen dessen, was noch geschehen wird. „Er geht mit ihm“ ist eine Verheißung, ein großer Trost. Warum? Weil ich weiß: Wenn Jesus mit einem Menschen mitgeht, dann wird er ihn nicht im Stich lassen, sondern bis zum Ende und durch das Ende hindurch bei ihm bleiben.

Allerdings: Es kommt zu einer Verzögerung. Die Menschenmenge hat natürlich mitbekommen, dass ihr Orts- und Gemeindevorsteher sich flehentlich Jesus zu Füßen geworfen hat. Also folgen die Leute Jesus auf seinem Weg zum Haus des Jairus. Und umdrängen ihn dabei von allen Seiten. Mitten in dem Gedränge bleibt Jesus plötzlich stehen und sagt: „Jemand hat mich berührt!“ Äh, ja… du wirst von allen Seiten bedrängt. Du wirst ständig berührt.

Aber es war mehr als eine belanglose Berührung. Es war – nahezu magisch. Eine Kraft ist von Jesus ausgegangen, eine „dynamis“, wie es im griechischen Urtext heißt. Jesus hat es gemerkt. Und er sieht sich um: Wer hat ihn berührt?

Eine Frau tritt vor. Heraus aus der Verborgenheit in der Menge, aus der Anonymität. Sie tritt hervor, zitternd und voller Furcht, wirft sich nun, wie zuvor Jairus, vor Jesus nieder und erzählt, was ihr widerfahren ist. Und was sie hier erzählt, ist höchst intim. Es betrifft ihr Innerstes.

Regelblutungen gehören zum Erfahrungshorizont einer Frau. Sie kommen und sie gehen. Sie stehen für das Ende eines Zyklus. Und nach dem Ende kommt der Anfang, der sogar neues Leben ermöglicht. Blutungen jedoch, die nicht mehr aufhören, stehen für ein Ende ohne Ende. Zwölf Jahre lang, das bedeutete: ohne Unterbrechung fließt Lebenskraft von ihr fort. Das hieß nach den damaligen Hygieneregeln auch: Seit zwölf Jahren durfte sie keinen Menschen mehr umarmen, keinen Tisch mehr berühren, ohne dass dieser danach als unrein galt, desinfiziert werden musste. Zwölf Jahre lang ist diese Frau von Arzt und Arzt gerannt, hat viel durchgemacht, ihr ganzes Geld dafür ausgegeben und ist nun total verarmt. Aber es hatte nichts genützt, ihr Leiden ist nur noch schlimmer geworden. Sozial vereinsamt. Wirtschaftlich am Ende. „Wenn ich nur seinen Mantel berühre, werde ich gesund“, spricht diese Frau sich selber zu und rafft sich auf.

Was für ein unglaublicher Akt der Selbstmotivation und der Zuversicht! Nach all dem, was sie durchgemacht hat! Vom äußeren Rand der Gesellschaft, vereinzelt, rafft sie sich auf, überwindet die Menge und alle Konventionen, die sie von Jesus trennen, drängt sich bis zu ihm hindurch, berührt den Saum seines Gewandes und spürt im selben Moment, wie sie innerlich heil wird.

Diese Heilungsgeschichte ist einzigartig im Neuen Testament, denn Jesus tut hier nicht willentlich ein Wunder, sondern das Wunder geschieht – und die Antriebskraft ist die Sehnsucht der Frau. Ihre auf Jesus gesetzte Hoffnung zieht das Wunder gewissermaßen aus ihm heraus (ein schöner Gedanke des Theologen Klaus Douglass, siehe Douglass/Vogt, der Evangelische Patient).

Jesus schaut die Frau an. Und ist sichtlich beeindruckt. Er sagt zu ihr: „Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden. Du bist endgültig von deinem Leiden befreit.“

Jesus nennt sie „Tochter“ und erklärt sie damit für zugehörig, nimmt sie in die Gemeinschaft auf. Er heilt nicht nur ihr körperliches Leiden, sondern auch ihr soziales Leiden. „Geh hin in Frieden, du bist endgültig von deinem Leiden geheilt.“ Mit diesen Segensworten sendet er die Frau zurück ins Leben.

Während dieser Unterbrechung, während all dieser Bewegung – die Frau, die sich zu Jesus drängt, ihn berührt – die Kraft, die fließt, von Jesus zu der Frau – Jesus, der sich umdreht – das Bekenntnis der Frau – während all dessen liegt in einem Haus ein sterbendes Mädchen.

Und als Jesus noch mit der Frau spricht, kommt die Nachricht zu Jairus: „Deine Tochter ist gestorben. Bemühe den Lehrer nicht mehr.“

Stillstand.

Ich höre den Vorwurf in ihren Worten: Diese Frau hier, diese Tochter, mag geheilt sein. Eine Frau ohne Namen. Ohne Bedeutung. Aber deine Tochter, die ist jetzt tot. – Die Heilung der einen bedeutet ein zu spät für die andere. Eine Wechselwirkung. Eine Verteilungsfrage: Es kann nicht allen geholfen werden! – Und ich höre die herabsetzende Empfehlung: Bemühe den Lehrer nicht mehr. Den „Lehrer“, den Rabbi. Denn das ist es, was sie in Jesus sehen: einen, der gute Worte findet, die Wirklichkeit zu deuten. Aber mehr auch nicht. Bemühe den Rabbi nicht mehr, lass ihn in Ruhe!

Aber Jesus will bemüht werden! Er deutet Wirklichkeit nicht nur, sondern er schafft sie.  „Fürchte dich nicht“, sagt er zu Jairus, „glaube nur!“

Ein heikler Moment. Beide Seiten reden auf Jairus ein. Die einen, seine engsten Vertrauten, sagen: „Gib auf. Du hast verloren.“ Der andere sagt: „Fürchte dich nicht, glaube nur.“

Wir wissen nichts von dem, was in Jairus in diesem Augenblick vor sich geht. Wir wissen nur: er geht weiter. Zu dem Haus, in dem das tote Mädchen liegt. Und Jesus geht mit ihm. Die Verheißung gilt. Immer. Egal was geschieht: ich geh mit dir.

Im Haus treffen sie auf die Trauergesellschaft, und in der Bibel steht: „Sie weinten und klagten laut.“ Totenklage im damaligen Israel war keine stille Trauerfeier, wie wir sie kennen. Totenklage war laut und gehörte zu den heiligsten Pflichten. Angehörige, Nachbarn, Freunde und selbst Feinde hatten da zu sein und zu klagen. Unterstützt von professionellen Klageweibern und Flötenspielern. Je vornehmer das Haus, desto gellender die Klage. Man raufte sich die Haare und zerkratzte sich das Gesicht.

Mitten hinein in die Todesklage ruft Jesus: „Was soll dieser Lärm, das Kind ist nicht gestorben. Es schläft nur…“

Die Leute, die eben noch lauthals geklagt haben, fangen an zu lachen. Sie lachen Jesus aus.

Jesus wirft sie alle raus. Alle. Nur die Eltern des Mädchens und ein paar Jünger dürfen bleiben. Jesus weiß, dass das Mädchen tot ist. Sie ist aus der Gemeinschaft der Lebenden herausgefallen. Und ebenso wie bei der blutflüssigen Frau gilt nun nach nachmaliger Vorschrift: Nicht anfassen. Aber Jesus hat keine Berührungsängste, weder angesichts gesellschaftlicher Ächtung, noch angesichts des Todes. Er geht zum Totenbett, ergreift die Hand des Mädchens und sagt: „Mädchen, steh auf!“

Diesmal ist es Jesus, von dem die Berührung ausgeht. Ausgehen muss. Denn im Gegenteil zu der erwachsenen Frau ist es dem Mädchen nicht möglich, Jesus aus eigener Kraft zu berühren. Sie brauchte einen Fürsprecher, der für sie zu Jesus lief und ihn herbat: ihren Vater. Und sie braucht Jesus, der zu ihr kommt. Bis an ihr Totenbett.

Jesus nimmt sie bei der Hand und ruft sie aus dem Tod zurück ins Leben. Die Geschichte erzählt: Sofort stand das Mädchen auf und ging ein wenig herum. Und als ob Jesus die Wiederherstellung des wunderbaren, des alltäglichen menschlichen Lebens und Miteinanders unterstreichen will, sagt er: „Gebt ihr was zu essen.“ Aus dem Stillstand des Todes in die Bewegung des ganz alltäglichen Lebens. Sie ging ein wenig herum. Das ist der Neuanfang. Er beginnt mit kleinen Schritten, mit freundlichen Gesten der Fürsorge.

Die Eltern und die Jünger sind außer sich. Eine Totenauferweckung! Jesus schärft ihnen ein, nichts davon zu erzählen. Mir wird nun auch klar, warum er zu den Leuten draußen sagte: Sie schläft nur. Damit es nicht später überall heißt: Er hat eine Tote auferweckt!

Ich möchte, bevor ich schließe, noch ein paar Gedanken mit euch teilen.

Diese beiden Geschichten sind eigentlich eine Geschichte. Und sie erzählt von der Überwindung der Notlage von Frauen, die aus der Gemeinschaft der Lebenden herausgefallen zu sein scheinen.

Sie erzählt von der Kraft der Verzweiflung und der Zuversicht, die eine Frau in Bewegung setzen kann. Um Hilfe zu erfahren. Um gerettet zu werden. In meinen Ohren ist diese Geschichte ein Ruf der Ermutigung an verzweifelte Frauen: Gib dich nicht verloren. Fasse Mut und Zuversicht! Fasse nach dem, von dem Leben und Heilung ausgehen! Es ist der Ruf, herauszutreten aus der vermeintlichen Namen- und Bedeutungslosigkeit: Es ist nicht egal, was aus dir wird.

Und die Geschichte erzählt von Todesschwachheit. Vom Angewiesensein auf einen Fürsprecher. Auf einen Menschen, der auf das Elend hinweist. Der zum Himmel schreit. Und Hilfe holt. In meinen Ohren ist die Geschichte ein Aufruf an die, die einen Namen haben: Von Liebe erfüllt die Stimme zu erheben für Mädchen in Not, die verstummt und erstarrt und herausgefallen sind aus der Gemeinschaft derer, die eine Zukunft haben.

Die Geschichte erzählt von Überwindung von Ausgrenzung und Todgeweihtheit. Und sie erzählt von der Wiederherstellung eines Lebens in Heil und Frieden.

Jesu Wärme, Hingabe und Nähe ermöglichen beiden Frauen den Schritt zurück ins Leben. Es ist ein Geheimnis der Wunder Jesu, dass er die Macht hat, Menschen aus der Umklammerung ihrer äußeren und inneren Begrenzung herauszulösen und sie dem Leben zurückzugeben. Und wie erleichternd: Gott rechnet nicht. Es ist eben nicht so, dass die Kraft Jesu nur für die eine reicht, und die andere geht verloren. Es gibt hier keine Wechselwirkung, keine Umverteilungs- und Zuteilungsfrage. Keine Obergrenze begrenzt Gottes weites Herz. In Jesus wird die überfließende Lebensfülle offenbar. Sie schließt alle Menschen ein. Männer und Frauen. Mädchen und Jungen. Alte und Kinder. Die Ortsprominenz und die Frau ohne Namen.

Wenn wir als Gesellschaft über Zahlen reden: Corona-Zahlen. Impfzahlen. Flüchtlingszahlen. Wirtschaftszahlen – so lasst uns zwischendurch von den Zahlen aufsehen. Und stattdessen zueinander hinsehen. Als Menschen. Ob nah oder weit entfernt. Mit den Augen, die wir im Gesicht haben. Und mit den Augen unserer Herzen.

Lassen wir es zu, dass wir berührt werden. Von der Not anderer Menschen. Lasst uns in Bewegung kommen. Lasst uns Hilfe holen, wo Menschen im Stillstand gefangen sind. Lassen wir uns nicht vorrechnen, dass die Lage hoffnungslos ist. Sie ist es nicht. „Ich gehe mit dir“. Versprochen.

Und geben wir auch uns selbst nicht verloren. Lassen wir uns von unserer großen Sehnsucht bewegen. Suchen wir die Berührung mit dem, von dem wir wissen: Hier ist Leben. Hier ist Hoffnung. Hier ist Heilung.

Übrigens: In der Legende ist der Frau, die Jesus berührt, ein Name zugewachsen: Veronika (oder Berenike – ist eigentlich der gleiche Name). Und er bedeutet: die Siegbringerin.

Dass wir als Siegbringerinnen und Siegbringer zurück ins Leben gehen, dazu segne und berühre uns Gott.

Ein Haus voller Menschen

Anfang März habe ich Geburtstag. Jedes Jahr wieder.

Am 11. März 2020 habe ich in letzten Jahr gefeiert. Nachgefeiert. Ich habe gerade so viele Freunde eingeladen, wie an unseren Tisch passen. 11 Menschen. Ich habe gekocht, festlich gedeckt, Kerzen angezündet und den besten Wein kredenzt, den ich hatte.

Von meinen meinen Gästen hatte ich mir schon im Voraus gewünscht, dass wir gemeinsam ein Lied singen und spielen: House with a crowded table. Diesen Song, den ich auf der RAD-Tagung im Februar 2020 zum ersten Mal gehört hatte und der mich tief berührte. Im September 2019 wurde es rausgebracht, von der amerikanischen Frauenband Highwomen – die Hohen Frauen – oder auch die Hohepriesterinnen. Und im RAD-Schlussgottesdienst wurde der Song so wunderbar von den RAD-Sängerinnen vorgetragen.

Wir haben das Lied bei mir zuhause an meinem großen runden Tisch dreimal gespielt. Zweimal geübt und einmal performed. Klavier, Gitarre, Bass, Cajon, Gesang… Nur für uns selbst. Richtig laut. Das ganze Haus war voller Klang. Und jedes Wort, das wir gesungen haben, meinten wir auch so. In Übersetzung:

„Ich will ein Haus mit einem Tisch voller Menschen, und einen Platz am Feuer für alle. Nehmen wir es mit der Welt auf, solange wir jung und fähig dazu sind. Und dann kommen wir wieder zusammen, wenn der Tag vorüber ist. Die Tür ist immer offen. Dein Bild hängt an meiner Wand. Jeder ist ein bisschen gebrochen. Aber jeder und jede gehört dazu.“

Corona war bereits am Rande Gesprächsthema, zu meinen Gästen gehörte auch ein Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank. Deren Belegschaft gerade ins Homeoffice geschickt worden war. Und wir diskutierten darüber, ob und wie dieses Virus unser Leben verändern könnte. Wenige Tage später kam der erste Lockdown.

Vielleicht, weil es der letzte Abend war, an dem ich mit Freunden gefeiert habe … Vielleicht, weil es das letzte Lied war, dass ich mit anderen zusammen gesungen habe … Ganz real. Ganz laut und nah beieinander … Jedenfalls geht mir das Lied seitdem nicht mehr aus dem Sinn. Und dazu dieses Bild von dem Tisch voller Menschen … Es ist für mich zu einem Hoffnungsbild geworden. Daran werde ich, Miriam, erkennen, dass die Krise vorbei ist: Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden wieder unbeschwert um einen Tisch herumsitzen und essen, reden, lachen, singen und feiern kann.

In Krisenzeiten entwickeln Menschen Hoffnungsbilder. Auch die Krisenbücher der Bibel sind voll von ihnen, allen voran die Offenbarung des Johannes. Kapitel 7: „Danach sah ich – sieh doch: eine große Menschenmenge. Niemand konnte sie zählen. Es waren Menschen aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen. Die standen vor dem Thron und vor dem Lamm. Sie trugen strahlend weiße Gewänder und hielten Palmenzweige in ihren Händen. Und sie sangen mit lauter Stimme ….“

Ein ähnliches Hoffnungsbild wie meines – eine singende Gemeinschaft – nur viel größer. Ein realer überdimensionaler Gottesdienst, zu dem Hunderthausende kommen und feiern.

Nun kann es natürlich sein, dass wir hier in eine Falle tappen und in der Krisenzeit daraufsetzen, dass es danach wieder so wird wie früher, nur noch viel schöner und größer. Dabei können wir noch nicht wissen, wohin uns die Krise führen wird. Wie unser Leben, wie unsere Gesellschaft, wie unsere Kirche nach der Krise aussehen wird. Wir wollen, dass es gut wird. Aber wie dieses Gut aussieht – das wissen wir noch nicht. Was also ist jetzt zu tun?

Der Text der zweiten Strophe des Songs House with a crowded table lautet übersetzt:

„Wenn wir einen blühenden Garten wollen, müssen wir Blumen säen. Etwas Glück pflanzen und es tief wurzeln lassen. Und wenn wir Liebe säen, werden wir Liebe ernten.“

Ich kann nicht wissen, wie das wachsen wird, was ich jetzt säe. Aber ich säe. Ich weiß noch nicht, wie der Garten später aussehen wird. Aber ich will gute Saat aussähen. Für die Zeit danach. Ich will auf Zukunft hin entscheiden und handeln.

Die stärkste Eigenschaft von Hoffnungsbildern ist: dass sie jetzt schon unsere Verhalten bestimmen. Mein Hoffnungsbild leitet mich: Ein Haus mit einem Tisch voller Freunde – in welcher Form auch immer. Daran werde ich erkennen, dass die Krise vorbei ist. Und was tue ich schon jetzt? Ich pflege meine Freundschaften – noch mal ganz neu. Reaktiviere manche Beziehungen. Ändere in manchen Freundschaften die Dimension, stelle sie auf eine neue, tiefere  Basis. Und freue mich schon jetzt auf auf ein Wiedersehen, nicht nur im kleinen, sondern im großen Kreis!

Woran wirst du erkennen, dass die Krise vorbei ist?

Woran werden wir als Gesellschaft erkennen, dass die Krise vorbei ist?

Was ist dein Hoffnungsbild?

Was leitet dich im Denken und im Tun?

Liebe voller Gott, du weißt, wonach wir uns sehnen … All unseren Dank für das, was uns jetzt an Gutem gegeben ist, und all unseren Schmerz über das, was uns fehlt, und all unsere Hoffnung auf das, was uns in die Zukunft zieht, nehmen wir uns zu Herzen und gehen mutig weiter.

Gesegnet

Marias großer Traum

(Lukas 1, 26-38. 46-55)

Es war an einem Vormittag. Sie war allein zuhause und machte die Küche sauber. Auf dem Frühstückstisch war noch alles stehen geblieben. Wie so oft hatte niemand seinen Teller zurück in die Küche gebracht. Geschweige denn in die Spülmaschine eingeräumt. Aber zurzeit störte sie das nicht besonders. Sie war sowieso gerade im Übergang. In einer Zwischenzeit. Ein Abschnitt ihres Lebens ging zu Ende, und ein neuer würde beginnen. Bald. Das kam nicht plötzlich, sie hatte sich schon seit längerem darauf vorbereitet. Hatte sich entsprechende Fertigkeiten und Fähigkeiten angeeignet. Und hatte sich auch schon oft ausgemalt, wie ihr Leben dann sein würde. Nicht überraschend, nein. Das nicht. Es war absehbar, wie es weitergehen würde. Aber für sie doch neu. Herausfordernd. Eine neue Aufgabe. Eine neue Situation. Und eine neue Umgebung. Sie würde umziehen. Bald. Ihre Tasche war schon gepackt. Nun, es war in ihrem Fall keine so große Tasche. Tja, und wenn das neue Leben dann begann, dann würde sie wohl erst mal keine Zeit mehr haben, über dieses neue Leben viel nachzudenken.

Die Küche war fast fertig. Schön sauber. Die Schreibtischarbeiten hatte sie gestern Abend schon erledigt… Staubsagen. Ja, das wäre vielleicht mal wieder nötig.

Sie geht in die kleine Kammer und holt den Staubsauger. Sie beginnt im Flur. Wegen des Holzfußbodens stellt sie auf Bürste um, es sind schon genügend Kratzer auf dem Boden. Sie steckt den Stecker in die Steckdose und drückt auf Start. Staubsaugerlärm. Nicht schön. Na, den wird sie auch weiterhin ertragen müssen. Überhaupt, manches wird sich ändern. Manches leider auch nicht.

In diesem Moment springt wie von selbst die Haustür auf. Ein blendend weißer Lichtstrahl fällt in den Flur hinein.

Schützend hält sie sich die Hände vor die Augen. Blinzelt, kann aber kaum etwas sehen, so hell ist es. Da ertönt eine Stimme, so lebendig wie der Frühling:

„Sei gegrüßt, du Begnadete! Gott ist mir dir!“

Die Frau erschrickt. Und sie erkennt bis in die Tiefen ihres Bewusstseins, wer da mit ihr spricht. Anfang und Ende. Ursprung und Ziel allen Seins. Ihre große Sehnsucht. Gottes Wort, an sie gerichtet, in Gestalt des Engels.

„Was soll denn das für ein Gruß sein?“ fragt sie nervös. Vielleicht, um abzulenken. Vielleicht, weil sie immer noch den Staubsauger in der Hand hält. Vielleicht auch, weil sie die Angst packt. Bis eben war noch alles absehbar und geregelt. Jetzt ist da dieses Licht, und sie sieht den Staub darin wirbeln.

„Hab keine Angst“, sagt das Licht und nennt die Frau beim Namen. „Gott hat dich erwählt. Seine Gnade wird dir jetzt zuteil. Und dies ist deine Bestimmung: …“

Und dann hört sie dem Engel zu. Aufmerksam. Überrascht: Kaum zu fassen, was der Engel da sagt. Eine unglaubliche Vision. Die Welt wird auf den Kopf gestellt – und sie mitten drin…?

„Aber… das geht doch gar nicht“, sagt sie. „Was du da sagst, dass es meine Bestimmung sei… das geht nicht. Das kann ich nicht. Da gibt es einige grundlegende Hindernisse gesellschaftlicher und natürlicher Art. Unüberwindbar…!“

Der Engel antwortet ihr: „Heiliger Geist wird auf dich kommen. Und die Segenskraft deines Gottes wird dich erfüllen. Darum wird die Frucht, die du mit deinem Leben hervorbringen wirst, heilig sein, und Gott selbst wird darin wohnen und für alle sichtbar werden.“

Die Frau blickt den Engel zweifelnd an.

„Schau“, sagt der Engel, „schau dir deine Cousine an. Du weißt, wie sehr sie sich wünschte, dass ihr Lebenstraum sich endlich erfüllt. Du weißt, dass sie über Jahre hinweg alles dafür getan hat, ihren Traum zu leben. Du weißt, dass sie die Hoffnung inzwischen aufgegeben hat. Aber soll ich dir was sagen? Es ist soweit! Ihr Traum wird wahr. Was Gott zusagt, das wird geschehen.“

Die Frau schweigt. Meine Bestimmung, denkt sie. Meine große Sehnsucht. Meine Erfüllung. Der Grund, warum ich hier bin… Danach habe ich mein bisheriges Leben nicht wirklich ausgerichtet. Ich wusste ja auch nicht, wie. Wen hätte ich fragen sollen? Wenn ich überhaupt gewagt hätte, zu fragen…. Außerdem – bleibt mir als Frau für die Erfüllung meines großen Traumes wenig Zeit und Raum. Der Alltag muss funktionieren. Der Haushalt muss laufen. Die Finanzen müssen stimmen. Die Familie muss zusammen gehalten werden. Und unsere Gesellschaft fordert ein gewisses Verhalten. Es gibt gewisse Wertvorstellungen… da war bis jetzt kein Platz für meine Sehnsucht. Und nun ist da dieser Engel! Alles gerät durcheinander. Ob ich das kann? Ob ich mich das traue?

Sie sieht das Licht. Sie fühlt die Wärme, die sich auf ihrem Gesicht und in ihrem Körper ausbreitet bei dem Gedanken, Ja zu sagen…

„Die Kraft deines Gottes wird dich erfüllen“, hat der Engel gesagt.

Und sie antwortet: „Ja.“

Da verließ sie der Engel. Und die Geschichte begann.

***

Es war Maria, die von Gott dazu auserwählt wurde, die Mutter Jesu zu werden. War das ihr großer Traum, war das ihre Bestimmung? Ihre Erfüllung? Nein. Und ja.

Marias Traum war nicht, zu heiraten, einen Haushalt zu führen, Kinder zu bekommen und diese zu versorgen, bis sie groß sind. Nein.

Weißt du, was Marias Traum war? Der Traum dieser jungen, jüdischen Frau aus eher einfachen Verhältnissen? Die in Nazareth lebte, einer Stadt, von dem man sagte: Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen? Der Traum dieser jungen, jüdischen Frau, die in einem unfreien, besetzten Land lebte. Unter römischer Herrschaft, einer Herrschaft, die schon bei kleinstem Widerspruch und dem Verdacht auf Untreue gegenüber dem Staat grauenvoll bestrafte, die tausende von Menschen hinrichtete. Der Traum dieser jungen jüdischen Frau, auf deren Familie ein immenser finanzieller Druck lastete, hervorgerufen durch die horrenden Steuern, die zu zahlen waren. Weißt du, was Marias Traum war? Lies mal nach, in der Bibel, Lukasevangelium, Kapitel 1.

Als Maria nämlich schon schwanger ist, stimmt sie ein Loblied an, bekannt geworden als der Lobgesang der Maria, und darin benennt sie ihren großen Traum:

„Meine Seele preist den Herrn aus tiefstem Herzen.
Und mein Geist jubelt vor Freude
über Gott, meinen Retter.
Er wendet sich mir zu, obwohl ich nur seine unbedeutende Dienerin bin.
Schaut! Von jetzt an werden mich alle Generationen selig preisen.
Denn Gott, der mächtig ist, handelt wunderbar an mir.
Sein Name ist heilig.
Er ist barmherzig zu denen, die ihn ehren und ihm vertrauen

von Generation zu Generation, denn…“

Und jetzt steht da nicht: „Denn ich werde die berühmteste Mutter der Welt sein!“ Nein. Marias Traum ist von politischer Natur! Sie singt:

„Denn Gott hebt seinen starken Arm und fegt die Überheblichen hinweg.
Er stürzt die Machthaber vom Thron und hebt die Unbedeutenden empor.
Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
Er erinnert sich an seine Barmherzigkeit
Und kommt seinem Diener Israel zu Hilfe.
So hat er es unseren Vätern versprochen:

Abraham und seinen Nachkommen für alle Zeiten.“

Marias große Sehnsucht ist der Umsturz der Gesellschaft! Der ungerechten Verhältnisse. Ist die Befreiung ihres Volkes. Ist die Aufrichtung des Friedens. Ihre Sehnsucht ist die Erfüllung der großen Verheißung Gottes an das Volk Israel: Der Messias wird kommen: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friedefürst. Seine Macht wird groß sein und seiner Friedensherrschaft wird kein Ende sein.

Und wenn Maria zu Gottes Plan, dass sie die Mutter Jesu wird, „Ja“ sagt, dann nicht, weil sie Kinder so mag, sondern weil sie auf diese Weise das ihrige dafür tun kann, dass ihr großer Traum in Erfüllung geht. Mutter Gottes zu werden, ist sozusagen das Mittel zum Zweck.

Ich bin übrigens davon überzeugt: Gott weiß um Marias großen Traum. Und wählt genau darum sie aus. Weil Gott daran gelegen ist, dass wir Menschen unserer Bestimmung gemäß leben. Weil Gott dazu seinen ganzen Segen und seine Gnade geben will.

Daher: als der Engel zu ihr spricht und ihr von Gottes Plan erzählt, da versucht dieser Engel es gar nicht erst mit Worten, die für einige andere jungen Frauen vielleicht attraktiv geklungen hätten:

„Maria, du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Nenne ihn Jesus. Er wird sooo süß und knuffig sein…“

Nein. Das würde in Maria nichts anstoßen. Stattdessen sagt der Engel: „Maria, du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Gib ihm den Namen Jesus. Er wird Gottes Sohn sein. Gott wird ihm den Thron seines Vorfahren König David geben. Er wird für immer als König über die Nachkommen Israels herrschen, und seine Friedensherrschaft wird niemals aufhören.“

Das ist es! Das ist es, was Maria will. Und darum sagt sie „Ja“.

Von außen betrachtet ändert sich an Marias Lebenslauf erst mal nichts. Gut, ihr Verlobter Josef muss noch akzeptieren, dass sein erstes Kind ein Pflegekind ist. Aber sonst: Maria wird heiraten, wie geplant. Sie wird umziehen. Sie wird weitere Kinder bekommen. Sie wird Wert auf eine jüdisch-religiöse Ausbildung der Kinder legen. Sie wird den Haushalt führen – alles fast genauso, wie gedacht und geplant. Mit einem gewaltigen Unterschied: Vorher war dieser Lebensweg einfach nur ein Lebensweg. Jetzt ist dieser Lebensweg ihr persönlicher und von Gott geheiligter Lebensweg.

Vorher führte dieser Weg irgendwo hin. Jetzt, nach der Berufung, Begnadung und Segnung durch Gott, wird dieses Leben zu Marias Weg, ihren Traum zu erfüllen. Ihre Bestimmung zu leben. Teil der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt zu werden.

Was für eine Veränderung!          

Ich möchte dir folgende Fragen mit auf den Weg geben:

            Warum bist du hier?
            Was ist dein Traum?
            Was erfüllt dich?
            Wonach sehnst du dich am allermeisten?

            Was macht dich froh?

Ich bin sicher, du hast in deinem Leben schon einige Entscheidungen getroffen, die bewusst oder unbewusst der Erfüllung deiner Bestimmung dienten. Vielleicht ist dein großer Traum schon in Erfüllung gegangen oder geht gerade in Erfüllung. Vielleicht lebst du schon als Gesegnete und Begnadete, als Gesegneter und Begnadeter des Herrn! Wie gut, du gesegnete Frau, du begnadeter Mann!

Aber wenn nicht – dann wird es vielleicht Zeit, dass du dir diese Fragen stellst.

Manchmal sind die Türen einfach zu, und wir können nichts ändern an der Situation, in der wir leben. Aber: wenn die Tür plötzlich aufspringt, während du dein Tun und Schaffen hast – und wenn plötzlich im Licht und im Wind Gottes der Staub zu tanzen beginnt und Gott dein Leben zur Erfüllung bringen will – dann sag nicht: „Nein.“ Oder: „Später“.

Dann sag „Ja“.

 

Er war´s – sie war´s

Kleine Beziehungsschule mit Adam und Eva

(Genesis 3)

 

Eine kleine Beziehungsschule mit Adam und Eva?! Ausgerechnet mit denen?! Das ist doch dieses verrückte Flower-Power-Paar, das eine Zeit lang lang nackt im Paradies-Camp wohnte. Das sich ausschließlich von Obst ernährte und allen Tieren besondere Namen gab. Das mit Gott per „du“ war und gelegentlich mit ihm spazieren ging. Ach ja, und waren Adam und Eva nicht auch die mit dem Apfel? Dem Apfel von dem verbotenen Baum?

Aber warum war der Baum jetzt gleich noch mal verboten… War das Obst giftig? Oder mit Pestiziden gespritzt? Und irgendwas hatte die ganze Sache doch mit Gott zu tun… und mit dem Tod… und mit einer Schlange… und irgendwie haben Adam und Eva doch ziemlich peinlich reagiert… aber wie war das noch genau?

Lesen wir doch einfach noch mal in der Bibel nach, 1. Mose 3:

Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: „Ja, sollte Gott etwa gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“

Da sprach das Weib zu der Schlange: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“

Da sprach die Schlange zum Weibe: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“

Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten.

Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: „Wo bist du?“

Und er sprach: „Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“

Und er sprach: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?“

Da sprach Adam: „Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.“

Da sprach Gott der HERR zum Weibe: „Warum hast du das getan?“

Das Weib sprach: „Die Schlange betrog mich, so dass ich aß.“

 

Aha. So war das also. Keiner will schuld sein. Jeder schiebt die Schuld einem anderen zu. Aber beide haben ein schlechtes Gewissen. Sonst hätten sie sich ja nicht vor Gott versteckt. Also sind doch beide schuldig geworden. Keiner wurde überredet. Keiner wurde mit diesem Apfel zwangsernährt. Die Schlange hat Eva nicht gedroht: „Wenn du nicht in den Apfel beißt, dann beiße ich dich tot!“ Und auch Eva hat Adam nicht erpresst: „Wenn du mich liebst, dann iss den Apfel!“

Nein! Eva und Adam haben aus eigener Entscheidung heraus das Gebot Gottes überschritten, in Verantwortung für ihr Tun.

Der Mensch ist von Gott geschaffen worden – als Mann und als Frau. Und der Mensch fällt von Gott ab – als Mann und als Frau. Und kaum ist die Frucht gegessen, fühlen sich beide voreinander bloßgestellt. Unschuld und Unbefangenheit im Umgang miteinander sind verloren, und stattdessen schämen sich die beiden voreinander.

Und dann: Die Begegnung mit Gott. Der Schöpfer geht im Paradies spazieren, auf der Suche nach seinen Geschöpfen. Aber die Krone der Schöpfung, der Mensch, ist nicht zu finden. Er versteckt sich vor Gott. Und warum? Weil die Schlange recht hatte: Wer von der Frucht des verbotenen Baumes isst, der weiß danach, was gut und was böse ist. Der Mensch weiß nun, was gut und was böse ist und er spürt, dass er etwas Böses getan hat. Das schlechte Gewissen ist erwacht.

Aber der Schöpfer liebt seine Geschöpfe und gibt nicht auf. Er sucht das Verlorene. Er ruft nach Adam und spricht ihn direkt auf seine Grenzüberschreitung an. Und dann geschieht das Unfassbare: Müsste nicht Adam jetzt vor Gott stehen und bekennen: „Gott, es tut mir so leid. Ich habe einen Fehler gemacht.“

Doch nichts dergleichen. Adam weiß ja jetzt, was gut und was böse ist. Was richtig und was falsch ist. Was Recht ist und was Unrecht ist. Darum ist die erste Rede an Gott eine Selbstverteidigungsrede. Denn Tatsache ist: Eva ist die Böse! Eva hat ihm die Frucht hingehalten. Die Frau, die Gott persönlich ihm zur Seite gestellt hat! Jetzt klagt Adam nicht nur Eva an, sondern Gott gleich mit! Schließlich hat Gott diese Frau geschaffen. Und diese Kreatur – die ist schuld an der ganzen Misere. Oder zumindest mitschuldig.

Seltsam, jetzt ist kein Wort mehr davon, dass Eva aus der Rippe von Adam kommt. Das sie quasi ein Teil ist von ihm. Das beide aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Zueinander gehören. „Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch“. Eins miteinander. Ebenbürtig. Vertraut. Ein echtes Gegenüber, eine Freundin. Seine Hilfe. Seine große Liebe!

Von wegen. Adam ist fertig. Fertig mit Eva und fertig mit seiner Selbstverteidigung.

Daher wendet Gott sich nun an die beschuldigte Eva: „Warum hast du das getan?“

Ich glaube nicht, dass Gott damit meint: Warum hast du deinen armen Ehemann zu einer bösen Tat verlockt? Sondern Gottes Frage bezieht sich wieder auf die Ursprungssituation: „Eva, warum hast du mein Gebot missachtet und eine Frucht von dem verbotenen Baum gegessen?“

Die richtige Antwort wäre gewesen: „Ach Gott! Die Früchte dufteten so herrlich und sahen so lecker aus, und außerdem wollte ich gerne so klug sein wie du. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich habe meine eigene Lust höher geachtet als die Beziehung zu dir. Es tut mir so leid.“

Stattdessen: „Die Schlange (die du, Gott, geschaffen hast), hat mich getäuscht. Verführt.“

Eva macht es genauso wie Adam: Sie verweist auf einen anderen Schuldigen und klagt zugleich Gott an, der ja der Schöpfer der Schlange ist.

Das Ergebnis: Die Vertrautheit zwischen Adam und Eva ist hin. Die Vertrautheit zwischen Gott und den Menschen ist hin. Alles ist hin. Sünde macht einsam.

Das Dilemma ist ja: Wenn der eine anfängt, sich zu verteidigen und die Schuld von sich zu weisen, muss der andere Not gedrungen auch damit anfangen, sonst hat man ruck zuck eine Konstellation, in der immer ein Partner der Sündenbock ist und einer das Unschuldslamm. Hätte Adam zu Gott gesagt: „Tut mir leid. Ich habe einen Fehler gemacht.“ Dann hätte Eva vielleicht gesagt: „Tut mir leid, Gott, ich habe Adam den Apfel gegeben. Er ist gar nicht schuld. Adam, es tut mir so leid. Verzeih mir!“ Dann hätte Adam vielleicht gesagt: „Nein, Eva, ich stand die ganze Zeit dabei, als die Schlange mit dir sprach. Ich hätte dich unterstützen sollen. Ich hätte dich beschützen sollen. Du bist nicht schuld. Ich bin schuld. Verzeih mir.“ Und dann hätten Adam und Eva sich weinend in den Armen gelegen. Und die Schlange, die hätte blöd aus der Wäsche geguckt, und Gott hätte die Verhandlung verschoben auf die Zeit nach den Flitterwochen. Vielleicht hätte er sich auch so dermaßen über die beiden gefreut, dass er die Anklage zurückgezogen hätte.

Apropos Anklage – erstaunlich: Eigentlich gab es ja gar keine Anklage. Jedenfalls so lange nicht, bis Adam sie erhoben hat. Gegen Eva. Und gegen Gott. Und bis Eva sie erhoben hat: Gegen die Schlange. Und gegen Gott.

Tja, die Anklage war erhoben – die Verhandlung wurde eröffnet. Die beiden Reden zur Verteidigung waren gesprochen. Und was nun? Nun kommt das Urteil.

Ich lese weiter in 1. Mose 3:

Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: „Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“

Und zum Weibe sprach er: „Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.“

Und zum Manne sprach er: „Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“

Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Gott der HERR machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. Und Gott der HERR sprach: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!“

Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb die Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim, die Engel, mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.

 

Die Schlange wird verflucht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Welt werden Mensch und Schöpfung entzweit. Entfremdet voneinander. Der Mensch tritt die Kreatur mit Füßen, und die Kreatur bringt den Menschen zu Fall. Beschuldigung führt zu Entfremdung.

Adam und Eva werden bestraft. Das Leben ist nun nicht mehr eitel Sonnenschein.

Das Leben wird weitergehen – ja. Eva wird Kinder zur Welt bringen – ja, aber unter Angst und Schmerzen. Eva wird weiterhin mit Adam zusammen sein können. Aber nicht mehr ebenbürtig, freudvoll und ehrenvoll, sondern in einem Verhältnis von Unterwerfung und Beherrschung, Sieg und Niederlage.

Adam bekommt ebenfalls seine Strafe: Er wird zwar seine Familie ernähren können, aber das nur mit Mühe und Schweiß, Stress, Enttäuschung, Fehlschlägen und Missernten, Disteln und Dornen. Keine paradiesischen Zustände mehr. Und wenn er sich abgearbeitet hat, wird er sterben.

Rollenbilder von damals. Gilt genauso umgekehrt. Außer der Sache mit dem Kinderkriegen.

Und das Schlimmste an der Sache ist: Die Folgen der Grenzüberschreitung tragen Adam und Eva nun nicht gemeinsam, sondern jeder leidet für sich. Denn die Vertrautheit und die Zusammengehörigkeit zwischen ihnen haben einen Bruch erlitten, in dem Moment, als sie gegeneinander vor Gericht zogen, als sie andere beschuldigten: Er war´s – sie war´s!

Zum Glück liebt Gott seine Menschen. Er lässt seine gebrochenen und entzweiten Geschöpfe mit ihrer Not nicht allein. Er ist fürsorglich. Als erstes macht er ihnen Kleider, das heißt: Gott stellt sie nicht voreinander und vor der Welt bloß, sondern er hüllt sie liebevoll und wärmend ein. Und dann schickt er sie aus dem Paradies. Nicht etwa, weil er ihnen das Paradies nicht gönnt, sondern: Weil mitten im Paradies der Baum des ewigen Lebens steht. Und das Schlimmste, was Adam und Eva jetzt passieren könnte, ist, dass sie in ihrer vertrackten Situation auch noch vom Baum des ewigen Lebens essen und damit das eigene gebrochene Leben, das zerstörte Vertrauen und die unheile Beziehung verewigen, zementieren.

Außerhalb des Paradieses sein, ist nicht nur Strafe. Sondern außerhalb des Paradieses findet auch die Begnadigung statt. In dem Moment, in dem ein Mensch beginnt, die eigene Schuld zu bekennen: in dem Moment gewinnt die Gnade Raum. Das galt schon zu Zeiten des Alten Testaments und wurde durch Jesus Christus besiegelt. Der Apostel Johannes, einer der ersten Christen, fasst es in folgende Worte: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“

Was können wir heute von Adam und Eva lernen?

Macht es anders!

Überschreitet nicht die guten Grenzen, die euch gesetzt sind und die die eigene Integrität und die des Gegenübers wahren.

Beschuldigt nicht einander, sondern bekennt eure eigene Schuld und ebnet damit den Weg für den anderen, Schuld zu bekennen und dennoch seine Würde zu behalten.

Macht Gott oder das Schicksal nicht für eure Entscheidungen und die Folgen verantwortlich!

Tja, leichter gesagt als getan. Dummerweise stehen die meisten von uns aber nicht am Anfang einer Beziehung, sondern haben die erste, zweite oder x-te Runde Grenzüberschreitung, Verletzung, Beschuldigung, Anklage schon hinter sich – oder stecken gerade mitten im Prozess. Letztlich fangen wir alle immer wieder bei Adam und Eva an.

Wer eine gute und sinnvolle Grenze überschritten hat, der wird sich danach schämen, der wird etwas Persönliches, Intimes, vielleicht auch Verletzliches verbergen müssen, der wird Geheimnisse haben, die der Beziehung vielleicht nicht gut tun – so wie Adam und Eva ihre Nacktheit erkannten und sie voreinander verbargen, mit dem legendären Feigenblatt.

Wir wissen dann auch: Wer die Schuld einem anderen zuschiebt, dem Partner, der Umwelt, der Gesellschaft, der Umgebung, der zerstört damit das Vertrautheitsgefühl, das Zugehörigkeitsgefühl. Der vereinsamt in seinem Beharren auf das Recht. Der sieht das Paradies mit seinen Kreaturen nicht mehr als Heimat, der sieht auch seinen Partner nicht mehr als Geschenk des Himmels, als segnendes Gegenüber, sondern als etwas Feindliches.

Und wenn wir uns die Geschichte von Adam und Eva zu Herzen nehmen, dann gibt es nur eine Lösung: Raus aus dem Paradies. Rein in die harte Realität. Dann muss der verfluchte Acker bearbeitet werden. Dann muss der Mensch schwitzen und sich abmühen. Dann muss er seine Verantwortung wahrnehmen und Fürsorge lernen. Dann muss man die Erfahrung machen, dass man es schaffen kann. Dass man sich das Glück hart erarbeiten muss. Dass es auch Schmerz und Angst und Stress mit sich bringt, Leben zu geben und groß zu ziehen. Aber auch Freude! Gemeinsamkeit! Dass man sich investiert. Dann man spürt: wir hängen aneinander, wir gehören zusammen, wir bilden eine Gemeinschaft.

Gott hat zwar bewaffnete Engel vor die Tür zurück zum Paradies gestellt, aber er selbst ist schon lange nicht mehr im Paradies. Das Paradies ist unbewohnt. Gott hat sich auf den Weg gemacht, um bei seinen Menschen zu sein. Denn der Segen, den er den beiden zugesprochen hat, der wird auch durch die Vertreibung aus dem Paradies nicht aufgehoben. Er kann sichtbar und spürbar werden, da wo Menschen versuchen, das Leben miteinander zu meistern. Da wo ein Mensch in dem Partner wieder das gesegnete und segnende Gegenüber erkennt, das Gott ihm als Hilfe zur Seite gestellt hat. Da wo Menschen ihre Umgebung als von Gott geschenkten Lebensraum und als ihr Zuhause erkennen. Da wo Menschen Schuld bekennen, würdevoll handeln und Versöhnung suchen.

Dazu ermutigen uns Adam und Eva, der wunderbare, der gefallene Mann, die wunderbare, die gefallene Frau – deren Verbindung trotz allem Leben hervorbrachte und die zu Urmutter und Urvater aller Menschen geworden sind.

Großes Herz! Es reicht für alle

Sieben Woche ohne Enge (Fastenaktion 2016)

(Predigt zu Markus 6, 10-44)

Das ist wieder mal typisch Jesus: Lebt offensichtlich an der Realität vorbei. 5000 Männer, dazu die Frauen. Und die Kinder. Alle sitzen, stehen, drängen sich erwartungsvoll um Jesus und seine Jünger. Seit dem frühen Morgen. Da hatte es auch nichts gebracht, dass Jesus mit dem Boot an ein anderes Ufer aufgebrochen ist. So was spricht sich ja schnell rum! Kaum hatten die Leute es mitbekommen, sind sie dorthin gerannt, um das Boot in Empfang zu nehmen. Und hatten es schnell noch vorher ihren Freunden weitergesagt – heute hätte man die Botschaft getwittert: „Er kommt in eure Nähe, los, nichts wie hin!“

Tja, und wir wissen ja, was so ein Satz auslösen kann … Die Menschen strömen herbei. In Scharen. Und Jesus, wie er so ist, hat sich wieder mal erbarmt! Ist wieder mal für diese vielen bedürftigen Menschen da. Spricht zu ihnen. Heilt und ermutigt sie.

Und als es Abend wird, sind alle müde und hungrig. Klar. Die Jünger halten kurz Rat miteinander und treten dann auf ihren Meister zu. Mit einer guten Idee: „Jesus, schick die Leute in die umliegenden Dörfer, damit sie sich was zu essen kaufen.“ Gut, die umliegenden Dörfer sind natürlich nicht vorbereitet auf 5000 Männer, plus Frauen und Kinder. Aber das ist ja dann nicht mehr das Problem der Jünger.

Und was sagt Jesus? „Gebt ihr ihnen zu essen!“

Gebt ihr ihnen zu essen! Das ist doch ein Witz, oder?

Ich stelle mir vor, wie Petrus Jesus beiseite nimmt, ihm jovial den Arm um die Schulter legt und sagt: „Mein lieber Rabbi! Wir, die Jünger – die kein regelmäßiges Einkommen mehr haben, seit wir mit dir unterwegs sind – wir sollen also Brot kaufen? Für, sagen wir mal, 200 Silberstücke, also umgerechnet… 7 Monatsgehälter? Warte mal, ich guck mal, was ich noch so an Geld dabei habe… Ups! Wird wohl nicht ganz reichen!“

„Wieviel Essen habt ihr denn? “, fragt Jesus. „Seht doch mal nach…“ Ich denke, Petrus lacht auf, die anderen Jünger lachen ebenfalls auf. Und dann sehen sie mal nach.

***

Die Welt ist in Bewegung. Menschenmassen suchen täglich Schutz und Hilfe in Ländern, in denen kein Krieg tobt. In denen kein Hunger herrscht. In denen keine Verfolgung droht. Gut, einige sind sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Die einfach nicht akzeptieren wollen, dass es nun mal ärmere und reichere Länder gibt. Die ein genauso großes Stück vom Kuchen abhaben wollen wie wir. Oder zumindest ein etwas Größeres als bisher.

Und ein Teil dieser vielen Menschen, die auf der Flucht sind, sucht Hilfe und Schutz und Perspektive in Europa. Und ein Teil davon in Deutschland.

Es ist ja nur ein Teil. Aber ja, es sind viele. Sehr viele. Kein Wunder, dass man da auf die Idee kommt, die Menschen wieder nach Hause zu schicken. Als ob es da für die meisten von ihnen überhaupt noch das gibt, was wir ein Zuhause nennen. Einen Ort der Geborgenheit. Einen Ort, an dem man sich auskennt. An dem man Leben gestalten kann. An dem man sich abends getrost schlafen legt.

Na gut, vielleicht nicht einfach wieder nach Hause. Aber halt in andere Dörfer. In andere Gegenden. In andere Länder. Los, verteilt euch halt!

Ja, es sind viele. Diese Menschen alle aufzunehmen und zu versorgen, ist … nicht möglich. Stellt euch vor, wenn alle kämen! Was dann hier los wäre! Ja, und das kostet Geld! Weit mehr als 7 Monatsgehälter. Wie soll denn das gehen? Ratlosigkeit macht sich breit.

***

Jesus aber ist die Ruhe selbst. „Wie viel habt ihr denn?“, fragt er. „Seht doch mal nach… Bevor wir die Menschen wegschicken, lasst uns mal prüfen, was da ist!“

Die Jünger sehen nach, und das Ergebnis lautet: 5 Brote und 2 Fische. Das ist allerdings ernüchternd. In einer anderen Fassung der Geschichte lesen wir, dass diese 5 Brote und 2 Fische das sind, was ein Junge mitgebracht hat. Also einer, der alles gibt, was er hat. Ein Kind. Und die anderen?

Ich frage mich: Hatten die anderen, die 5000 und mehr, wirklich nichts dabei? Keinen Proviant? Nichts? Oder hätten sie schon noch was gehabt. Aber wenn sie´s in den gemeinsamen Topf werfen … nun dann wird das Bisschen ja durch 5000 Männer geteilt. Dazu die Frauen. Und die Kinder. Da kann man sich ja ausrechnen, was dabei für einen selbst herumkommt. Der einzige, der wohl nicht rechnet, ist dieser Junge, dieses Kind, das seine Brote und Fische hergegeben hat.

Und was ist mit den Jüngern? Die so nah an Jesus dran waren? Haben die auch nichts mehr dabei? Das kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen. Ich meine, da war doch Judas, der das Geld der Gruppe gut verwaltete. Der hatte doch immer noch was in der Tasche. Oder Petrus und die anderen Fischer. Hatten die keinen einzigen Fisch mehr?

Neulich habe ich im Radio von einem spannenden soziologischen Experiment gehört: Da wurden 100 Menschen in einen Raum gesetzt. Jeder von ihnen bekam 100 Euro in die Hand gedrückt. Und dann sagte der Spielleiter: „Jeder von euch hat die Möglichkeit, einen Teil des Geldes in diesen Topf hier in der Mitte zu werfen. Soviel Geld, wie dort zusammen kommt, lege ich als Spielleiter noch mal drauf. Und diese Summe wird dann gleichmäßig unter alle 100 Mitspieler verteilt.“

Ich sehe jetzt schon die ersten unter Ihnen rechnen … Wenn jeder seine 100 Euro in den Topf wirft, dann sind das 10.000 Euro. Und wenn der Spielleiter den gleichen Betrag dazu legt, dann sind das 20.000 Euro. Geteilt durch 100 Mitspieler … macht: 200 Euro für jeden! Doppelt so viel. Ja, das ist doch ein Deal, oder?

Na, ein oder zwei rechnen heimlich weiter … „Es gibt da ja noch eine Alternative: Wenn ich meine 100 Euro behalte… dann sind zwar im Topf nur 9.900. Verdoppelt 19.800. Geteilt durch 100 sind … 198 Euro pro Mitspieler … Dann komme ich zusammen mit meinen 100 Euro am Ende auf … fast 300 Euro! Ja, das nenne ich mal einen Deal! Das finden die anderen natürlich nicht so gut, aber sie bekommen ja noch genug. Also was soll´s!“ Solange jeder sehen konnte, was eingeworfen wird, haben übrigens fast alle mitgemacht und ihren Teil beigetragen.

Mit einer anderen Gruppe wird das gleiche Spiel im Dunkeln gespielt. Niemand kann sehen, ob der andere seine hundert Euro in den Topf wirft oder nicht. Und siehe da: Jetzt behalten ganz viele ihr Geld für sich, und haben dennoch Anteil am gemeinsamen, nun nicht mehr so großen Gewinn. Einige gehen nach dieser Variante im Dunkeln mit ziemlich wenig Geld nach Hause, sie haben nämlich alles gegeben. Aber im gemeinsamen Topf … nun, da war dennoch nicht so viel drin. Weil zu viele eben nichts gegeben hatten.

***

„Wieviel habt ihr denn“, fragt Jesus. „Seht doch mal nach…“ 5 Brote und 2 Fische. Ein Armutszeugnis. So viele Menschen. Und so viele haben scheinbar nichts gegeben. Und was tut Jesus? Schimpft er mit den Leuten? Mahnt er sie zu besserem Verhalten? Befiehlt er, alle Taschen umzustülpen? Erlässt er neue Gesetze?

Nein. Jesus hakt nicht weiter nach. Er diskutiert nicht. Er nimmt das, was da ist. Und: Er verleiht dem ganzen Geschehen eine neue Struktur und einen neuen Charakter: Er lässt die Menschen sich lagern. Platz nehmen. Und zwar tischweise. Jetzt wuseln nicht mehr alle durcheinander, sondern sie finden sich zusammen. Auf dem grünen Gras. In Gruppen zu 50 und zu 100. Aus der unpersönlichen Menge werden kleine, überschaubare Gemeinschaften.

Jesus füttert nicht einfach ab. Sondern er bittet als Gastgeber zu Tisch. Er verändert die Atmosphäre. Er verwandelt die Situation. Weg von einem Notstand. Hin zu einer Tischgemeinschaft. Zu einem Festmahl des Miteinanders. Wie ein guter jüdischer Hausvater nimmt er die 5 Brote und die 2 Fische, blickt zum Himmel auf, dankt und gibt sie den Jüngern: „Teilt das Essen aus. An alle!“, sagt er. Und dann passiert das Wunder.

Sie essen. Und sie werden satt. 5000 Männer. Dazu die Frauen. Und die Kinder. Danach sammeln die Jünger die Reste ein. Und es bleiben 12 Körbe voll übrig.

Ich hätte  so gerne gesehen, was zwischen diesem Auftrag: „Teilt das Essen aus!“ – und dem Satz „und sie aßen und wurden satt“ genau passierte!

Wir haben es ja nicht so mit Wundern. Außer beim Fußball. Und weil wir es nicht so mit Wundern haben, gibt es in der Theologie die Theorie, dass es bei der Speisung der 5000 so war: Als die Leute sahen, dass der kleine Junge bereit war, sein Essen herzugeben; und als Jesus sie so schön in Tischgemeinschaften aufteilte … da packten dann doch alle ihr verstecktes Pausenbrot aus, warfen es in den gemeinsamen Topf, teilten miteinander und aßen zu Abend. Das Abendmahl, sozusagen. Es war also gar kein Wunder.

Ehrlich sagt: Für mich wäre das ein Riesen-Wunder!

Nahrung produzieren. Das ist heute kein Problem mehr. Im industrialisierten Zeitalter. Es dauert nicht mehr lange, dann kann Fleisch hergestellt werden, für das kein Tier geschlachtet werden musste. Dann kann Brot verteilt werden, das aus dem Labor statt aus dem Backofen kommt. Essen für alle produzieren? Dazu braucht es kein Wunder mehr.

Wir brauchen ein größeres Wunder als die Verdoppelung der Moleküle. Wir brauchen das Wunder, dass ein Mensch seine Gesinnung ändert. Denn dann würden wir ein Verteilungswunder erleben! Nicht ausgelöst durch Gesetze, sondern durch Sinneswandel.

„Wieviel habt ihr denn?“, fragt Jesus. „Schaut doch mal nach…!“

Schauen wir uns die Lage mal an. Es gibt Menschen, die barmherzig sind. Die grundsätzlich von der Gemeinschaft her denken und handeln. Aber ebenso gibt es Situationen, in denen Solidarität und Fürsorge an ihre Grenzen stoßen. Früher oder später. Und bei manchen Zeitgenossen muss man lange suchen, bevor man ein Quäntchen Güte findet.

In unserem Land brennen derzeit wieder Häuser. Häuser, in denen Menschen Schutz und Obdach finden sollen. Zufluchtsstätten. Das ist kein Zeichen von Güte. Im Gegenteil: Das ist ein Warnsignal! Und dann die Bilder in den Nachrichten. Von Menschen, die einen Bus voller Flüchtlinge belagern. Von Menschen, die grölend um ein brennendes Haus herum stehen und „Wir sind das Volk“ grölen. Ist das „mein Volk“?

Es gibt kein Gütesiegel für „Die Deutschen“. Genau so wenig wir für „Die Afrikaner“. „Die Syrer“. „Die Amerikaner“. „Die Briten“. „Die Christen“. „Die Moslems“. „Die Flüchtlinge“. Ich fühle mich sehnsuchtsvoll verbunden mit denen, die Frieden stiften. Ich bin dankbar dafür, Bürgerin eines Landes zu sein, in dem die Würde des Menschen unantastbar ist. In einem Land, aus dem die Menschen nicht mehr fliehen. Sondern in dem Menschen Zuflucht suchen vor Unfreiheit und Ungerechtigkeit. Was für eine Ehre für unser Land!

Aber machen wir uns nichts vor: Nicht alle Menschen werden ihren Teil in den gemeinsamen Topf werfen. Damit müssen wir leben. Damit muss auch die Politik rechnen. Aber zugleich dürfen wir doch träumen: Von einer Gemeinschaft, die sich nicht in Sieger und Verlierer teilt. Nicht in Ost und West. Nord und Süd. Arm und Reich. Mächtig und ohnmächtig. Spieler und Spielball. Wo Menschen sich als Verlierer fühlen, werden sie nach Wegen suchen, auf die Siegerseite zu gelangen. Und nicht wenige werden dabei über Leichen gehen. Gewalt anwenden. Rechtsradikalen Parolen folgen. Sich dem Terror anschließen. Den Westen verdammen. Um bloß nicht Verlierer zu sein.

Für ein gerechtes Miteinander zu sorgen, ist eine der größten Herausforderungen unserer globalen Gesellschaft. Und ob das überhaupt möglich ist, kann man bezweifeln. Zu viele tun alles dafür, um ihren Reichtum zu erhalten, um auf der Siegerseite zu bleiben.

Und es wäre ja ein Wunder, wenn sich daran etwas ändern würde! Es wäre ein Wunder!

Keine Zauberkunststücke mit Brot und Fisch. Sondern die Erneuerung der menschlichen Gesinnung. Mit dem Ziel einer Gemeinschaft, in der Güte und Gerechtigkeit unser Handeln bestimmen. Dieses Wunder lässt sich in keinem Labor bewerkstelligen. Es ist eine Herzensangelegenheit. Ein solcher Sinneswandel ist nicht machbar. Sondern ist göttliche Gnade. Wirken des Geistes Gottes in uns Menschen.

Der Apostel Paulus schrieb vor 2000 Jahren an die Christen in Rom, dem damaligen Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Macht: „Stellt euch nicht der Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist: Nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“.

***

Doch noch einmal zurück zu den 5 Broten und 2 Fischen. Nehmen wir einmal an, das ist wirklich alles, was da ist, um tausende von Menschen zu sättigen.

Wir wissen: Das geht nicht. Aber Jesus sagt: Verteilt es. Und die Jünger verteilen es.

Mehr können wir als Christinnen und Christen manchmal nicht tun: Auf Gott hören. Das leben, was wir glauben. Das tun, was Christus uns zu tun aufträgt. Auf sein Wort hin können wir der Hoffnung mehr Recht einräumen als dem Zweifel. Das Chaos unserer Welt in eine Tischgemeinschaft verwandeln. Teilen, was wir haben. Und entweder gemeinsam scheitern. Oder aber gemeinsam erleben, wie das Unmögliche geschieht.

***

„Gebt ihr ihnen zu essen!“, sagt Jesus. Wenn wir also, im Großen wie im Kleinen, vor Herausforderungen stehen, die in unseren Augen unsere Möglichkeiten übersteigen, dann lasst uns gemäß der „Jesus-Taktik“ erst mal nachsehen, was da ist. Und wenn da wirklich nur 5 Brote und 2 Fische sind, dann ist das eben der Anfang!

Legen wir Zeugnis ab von dem, was uns erfüllt, was uns umtreibt, was uns Hoffnung gibt! Ergreifen wir doch mutig Partei für diejenigen, die unseren Mut und unsere Güte nötig haben. Suchen wir der Stadt Bestes! Suchen wir der Welt Bestes! Wir sind dabei in guter Gesellschaft.

Jesus nahm die fünf Brote und die zwei Fische. Er hob seinen Blick zum Himmel, dankte Gott. Und gab sie seinen Jüngern zurück mit den Worten: Verteilt sie an alle. Und alle wurden satt. Und es blieb noch viel übrig – bereit, verteilt zu werden. An weitere 5000 Männer, dazu die Frauen, und die Kinder.