Denn da war immer Licht

 

Bei der Amtseinführung des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden am 20. Januar 2021 trug die damals 22jährige Amanda Gorman ihr Gedicht vor: „The Hill We Climb“ – Der Berg, den wir erklimmen. Mehr als fünf Minuten sprach sie darin über ihr Erbe. Über ihre Abstammung von Menschen, die versklavt lebten. Über ihre Träume von der Zukunft. Sie sprach von dem Land, in dem sie lebt, legte den Finger in die Wunden der Gesellschaft und sprach zugleich von Hoffnung auf Versöhnung. Ihr Gedicht endete mit den Worten:

„The new dawn blooms as we free it. For there was always light, if only we’re brave enough to see it. If only we’re brave enough to be it.

„Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien. Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

Während so einer Amtseinführung werden viele Worte gemacht, aber es ist dieses Gedicht, das in Erinnerung geblieben ist und das weltweit von vielen Millionen Menschen auf Youtube angehört, in andere Sprachen übersetzt und immer wieder gelesen und zitiert wurde. Und es hat Menschen ermutigt. „Mut“ kommt von dem altdeutschen Wort „muot“ und bedeutet: Herzenskraft.

In Europa kam es zu einer Debatte über die Frage, wer das Gedicht übersetzen sollte. In den Niederlanden wurde zunächst die weiße Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld damit beauftragt, das Gedicht ins Niederländische zu übertragen. Das beschrieb die Publizistin Janice Deul als „verpasste Chance“. Dieser Hinweis wurde schnell auf die Frage zugespitzt: Wer darf das Gedicht einer schwarzen Frau, deren Vorfahren versklavt wurden, übersetzen?

Für die deutsche Übertragung hatte der Verlag Hoffmann und Campe sich für das Zusammenwirken von drei Frauen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund entschieden. Eine von ihnen, die Publizistin Kübra Gümüşay, nimmt zu der Identitäts- und Rassismusdebatte folgendermaßen Stellung:

„Das Ziel ist nicht zu sagen, alle müssen nur noch aus ihrer rassifizierten Kategorie heraus sprechen, also immer sagen: Ich als weißer Mensch, ich als Schwarze Person, ich als muslimische Person, ich als homosexuelle Person. Sondern: Das Benennen der jeweiligen Position ist ja nur notwendig, um sichtbar zu machen, welche Mauern sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Der zweite Schritt ist ja, diese Mauern aufzubrechen, sodass sie offenere, facettenreichere, verbindendere Gesellschaften sein können, in denen Menschen wirklich selbstbewusst, respektvoll, friedvoll miteinander leben können.“

Im Mai 2023 wurde in einer Grundschule im US-Staat Florida das zu Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ gehörende gleichnamige Buch als Lesestoff verboten. Die Mutter einer Schülerin hatte sich beschwert: Das Buch enthalte indirekte Hassbotschaften. Amanda Gorman reagierte auf das Verbot erschüttert und niedergeschlagen und kündigte Widerstand an.

Beide Reaktionen, sowohl die Übersetzungsdebatte in Europa, als auch das Buchverbot in Florida – so unterschiedlich sie sind, zeigen: Die starken und hell leuchtenden Worte des Gedichts „The Hill We Climb“ können nicht über die Schwierigkeiten unseres gesellschaftlichen Miteinanders hinwegtäuschen, das immer noch und immer wieder ein Gegeneinander ist. Und sie wollen auch nicht darüber hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Sie nennen sie beim Namen. Aber zugleich verharren sie nicht in Verzweiflung, sondern lenken unsere Gedanken in Richtung Hoffnung:

„Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien. Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

Der Bibeltext, auf den ich mich im folgenden beziehe, steht im Epheserbrief und ist fast 2000 Jahre alt. Paulus (oder einer seiner Schüler in Paulus Namen) schreibt diesen Brief aus dem Gefängnis in Ephesus heraus. Die Stadt Ephesus, gelegen in der heutigen Türkei, war zu dieser Zeit ein wichtiges Handels- und Kulturzentrum im Mittelmeerraum und beherbergte den berühmten Artemistempel. Paulus war aufgrund seiner missionarischen Arbeit – als Gründer christlicher Gemeinden – gefangen genommen und eingesperrt worden. Und ich gehe davon aus, dass auch die Menschen, an die er sein Schreiben richtet, also die Christinnen und Christen in Ephesus, ebenfalls mit öffentlicher Anfeindung zu rechnen hatten.

Wenn man sich die schwierige und vielleicht sogar verzweifelte und lebensbedrohende Situation des Paulus und die gefährdete Situation der Christinnen und Christen in Ephesus vor Augen führt, verwundert es schon, dass Paulus sein Schreiben mit so starken und leuchtenden Worten beginnt, wie wir sie in der Lesung gehört haben:

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er hat uns gesegnet mit allem Segen, der von seinem Geist erfüllt ist. Im Himmel hält er ihn für uns bereit. Denn wir gehören zu Christus.

Hätte er nicht besser mit folgenden Worten beginnen sollen?

Geklagt sei zu Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus! Denn ich bin im Gefängnis, eingesperrt hinter Mauern. Ich sehe keinen Himmel mehr und fühle mich alleingelassen. Und ihr seid ebenfalls in Gefahr!

Da wäre doch eigentlich eine angemessene Beschreibung der Wirklichkeit gewesen. Stattdessen wählt Paulus Worte, die ihn und die Menschen, an die er diesen Brief schreibt, in einer anderen Wirklichkeit verorten, nämlich in der Wirklichkeit Gottes. Und diese besagt: Wir sind gesegnet. Wir sind von heiligem Geist erfüllt. Wir gehören zu Christus. Und das von Anbeginn der Zeit. Noch bevor die Welt erschaffen wurde, hat Gott uns bereits erwählt. Und wozu: In der Liebe zu sein. Kinder Gottes zu sein. Aus Vergebung zu leben. Beschenkt mit Gnade, mit Weisheit und Einsicht. Einsicht in die Geheimnisse des göttlichen Willens.

Und was ist der göttliche Wille? Im biblischen Text wird er so beschrieben: „Unter Christus als dem Haupt sollte alles zusammengefasst werden im Himmel und auf der Erde.“ Der göttliche Wille ist also die Einheit aller Menschen. Und mehr noch: Die Einheit von allem im Himmel und auf Erden. Durch Christus, und das heißt: Durch die Liebe, die uns in Christus offenbart ist. Durch die Liebe, die Trennungen überwindet. Die böse Mächte und Gewalten so verwandeln kann, dass sie zur Güte bemächtigt werden.

Unvorstellbar, dass so etwas geschieht?

Ja, unvorstellbar.

Und zugleich die Verheißung Gottes an die Welt. Und als wesentliche Mitgestalterinnen und Mitgestalter dieser Verwandlung hat Gott, so schreibt Paulus weiter, alle eingesetzt, die zu Christus gehören.

In dieser Verwandlung der Mächte, in der Überwindung von Trennung, in der Suche nach Einheit aller Menschen verwirklicht sich das, was Gottes Wille für die Welt ist. Der biblische Text nennt dieses Geschehen das „Lob seiner Herrlichkeit“. Und unser Beten, Denken, Reden und Tun als Christinnen und Christen darf und soll daran mitwirken.

Was für ein Perspektivwechsel!

Nun ja, mag man denken, aber das ändert ja nichts daran, dass Paulus im Gefängnis sitzt. Das ändert nichts daran, dass heutzutage Menschen nach wie vor Rassismus, Unterdrückung, Krieg und Gewalt ausgesetzt sind.

Und es ändert auch nichts daran, dass wir in unserem ganz eigenen und persönlichen Leben in Krisen geraten, die uns zu schaffen machen. Dass wir immer wieder ein Gegeneinander statt ein Miteinander erleben.

Das stimmt. An den äußeren Umständen ändert sich zunächst nichts. Aber es ändert sich etwas an unserer inneren Haltung und Ausrichtung. Gründen wir uns in dem, was uns schwächt, was uns einengt und trennt, was uns das Herz und das Handeln schwer macht? Oder gründen wir uns in dem, was uns aufrichtet und stärkt, was unseren inneren Horizont weitet und unser Herz mit Liebe und Zuversicht erfüllt, nämlich in der göttlichen Zusage: Wir gehören von Anfang an und über alle Zeit hinaus zu Christus und sind Mitgestalter*innen und Mitgestalter einer besseren Welt.

Wenn ich mich entscheiden darf, dann wähle ich die zweite Perspektive. Und du bist eingeladen, das ebenfalls zu tun.

„Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

 

Quellenangaben:

US-Poetin Amanda Gorman – Wie übersetzt man „The Hill We Climb“? (deutschlandfunkkultur.de)

Schule in Florida verbietet Amanda Gormans „The Hill We Climb“ | NDR.de – Kultur – Buch