Gesegnet

Marias großer Traum

(Lukas 1, 26-38. 46-55)

Es war an einem Vormittag. Sie war allein zuhause und machte die Küche sauber. Auf dem Frühstückstisch war noch alles stehen geblieben. Wie so oft hatte niemand seinen Teller zurück in die Küche gebracht. Geschweige denn in die Spülmaschine eingeräumt. Aber zurzeit störte sie das nicht besonders. Sie war sowieso gerade im Übergang. In einer Zwischenzeit. Ein Abschnitt ihres Lebens ging zu Ende, und ein neuer würde beginnen. Bald. Das kam nicht plötzlich, sie hatte sich schon seit längerem darauf vorbereitet. Hatte sich entsprechende Fertigkeiten und Fähigkeiten angeeignet. Und hatte sich auch schon oft ausgemalt, wie ihr Leben dann sein würde. Nicht überraschend, nein. Das nicht. Es war absehbar, wie es weitergehen würde. Aber für sie doch neu. Herausfordernd. Eine neue Aufgabe. Eine neue Situation. Und eine neue Umgebung. Sie würde umziehen. Bald. Ihre Tasche war schon gepackt. Nun, es war in ihrem Fall keine so große Tasche. Tja, und wenn das neue Leben dann begann, dann würde sie wohl erst mal keine Zeit mehr haben, über dieses neue Leben viel nachzudenken.

Die Küche war fast fertig. Schön sauber. Die Schreibtischarbeiten hatte sie gestern Abend schon erledigt… Staubsagen. Ja, das wäre vielleicht mal wieder nötig.

Sie geht in die kleine Kammer und holt den Staubsauger. Sie beginnt im Flur. Wegen des Holzfußbodens stellt sie auf Bürste um, es sind schon genügend Kratzer auf dem Boden. Sie steckt den Stecker in die Steckdose und drückt auf Start. Staubsaugerlärm. Nicht schön. Na, den wird sie auch weiterhin ertragen müssen. Überhaupt, manches wird sich ändern. Manches leider auch nicht.

In diesem Moment springt wie von selbst die Haustür auf. Ein blendend weißer Lichtstrahl fällt in den Flur hinein.

Schützend hält sie sich die Hände vor die Augen. Blinzelt, kann aber kaum etwas sehen, so hell ist es. Da ertönt eine Stimme, so lebendig wie der Frühling:

„Sei gegrüßt, du Begnadete! Gott ist mir dir!“

Die Frau erschrickt. Und sie erkennt bis in die Tiefen ihres Bewusstseins, wer da mit ihr spricht. Anfang und Ende. Ursprung und Ziel allen Seins. Ihre große Sehnsucht. Gottes Wort, an sie gerichtet, in Gestalt des Engels.

„Was soll denn das für ein Gruß sein?“ fragt sie nervös. Vielleicht, um abzulenken. Vielleicht, weil sie immer noch den Staubsauger in der Hand hält. Vielleicht auch, weil sie die Angst packt. Bis eben war noch alles absehbar und geregelt. Jetzt ist da dieses Licht, und sie sieht den Staub darin wirbeln.

„Hab keine Angst“, sagt das Licht und nennt die Frau beim Namen. „Gott hat dich erwählt. Seine Gnade wird dir jetzt zuteil. Und dies ist deine Bestimmung: …“

Und dann hört sie dem Engel zu. Aufmerksam. Überrascht: Kaum zu fassen, was der Engel da sagt. Eine unglaubliche Vision. Die Welt wird auf den Kopf gestellt – und sie mitten drin…?

„Aber… das geht doch gar nicht“, sagt sie. „Was du da sagst, dass es meine Bestimmung sei… das geht nicht. Das kann ich nicht. Da gibt es einige grundlegende Hindernisse gesellschaftlicher und natürlicher Art. Unüberwindbar…!“

Der Engel antwortet ihr: „Heiliger Geist wird auf dich kommen. Und die Segenskraft deines Gottes wird dich erfüllen. Darum wird die Frucht, die du mit deinem Leben hervorbringen wirst, heilig sein, und Gott selbst wird darin wohnen und für alle sichtbar werden.“

Die Frau blickt den Engel zweifelnd an.

„Schau“, sagt der Engel, „schau dir deine Cousine an. Du weißt, wie sehr sie sich wünschte, dass ihr Lebenstraum sich endlich erfüllt. Du weißt, dass sie über Jahre hinweg alles dafür getan hat, ihren Traum zu leben. Du weißt, dass sie die Hoffnung inzwischen aufgegeben hat. Aber soll ich dir was sagen? Es ist soweit! Ihr Traum wird wahr. Was Gott zusagt, das wird geschehen.“

Die Frau schweigt. Meine Bestimmung, denkt sie. Meine große Sehnsucht. Meine Erfüllung. Der Grund, warum ich hier bin… Danach habe ich mein bisheriges Leben nicht wirklich ausgerichtet. Ich wusste ja auch nicht, wie. Wen hätte ich fragen sollen? Wenn ich überhaupt gewagt hätte, zu fragen…. Außerdem – bleibt mir als Frau für die Erfüllung meines großen Traumes wenig Zeit und Raum. Der Alltag muss funktionieren. Der Haushalt muss laufen. Die Finanzen müssen stimmen. Die Familie muss zusammen gehalten werden. Und unsere Gesellschaft fordert ein gewisses Verhalten. Es gibt gewisse Wertvorstellungen… da war bis jetzt kein Platz für meine Sehnsucht. Und nun ist da dieser Engel! Alles gerät durcheinander. Ob ich das kann? Ob ich mich das traue?

Sie sieht das Licht. Sie fühlt die Wärme, die sich auf ihrem Gesicht und in ihrem Körper ausbreitet bei dem Gedanken, Ja zu sagen…

„Die Kraft deines Gottes wird dich erfüllen“, hat der Engel gesagt.

Und sie antwortet: „Ja.“

Da verließ sie der Engel. Und die Geschichte begann.

***

Es war Maria, die von Gott dazu auserwählt wurde, die Mutter Jesu zu werden. War das ihr großer Traum, war das ihre Bestimmung? Ihre Erfüllung? Nein. Und ja.

Marias Traum war nicht, zu heiraten, einen Haushalt zu führen, Kinder zu bekommen und diese zu versorgen, bis sie groß sind. Nein.

Weißt du, was Marias Traum war? Der Traum dieser jungen, jüdischen Frau aus eher einfachen Verhältnissen? Die in Nazareth lebte, einer Stadt, von dem man sagte: Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen? Der Traum dieser jungen, jüdischen Frau, die in einem unfreien, besetzten Land lebte. Unter römischer Herrschaft, einer Herrschaft, die schon bei kleinstem Widerspruch und dem Verdacht auf Untreue gegenüber dem Staat grauenvoll bestrafte, die tausende von Menschen hinrichtete. Der Traum dieser jungen jüdischen Frau, auf deren Familie ein immenser finanzieller Druck lastete, hervorgerufen durch die horrenden Steuern, die zu zahlen waren. Weißt du, was Marias Traum war? Lies mal nach, in der Bibel, Lukasevangelium, Kapitel 1.

Als Maria nämlich schon schwanger ist, stimmt sie ein Loblied an, bekannt geworden als der Lobgesang der Maria, und darin benennt sie ihren großen Traum:

„Meine Seele preist den Herrn aus tiefstem Herzen.
Und mein Geist jubelt vor Freude
über Gott, meinen Retter.
Er wendet sich mir zu, obwohl ich nur seine unbedeutende Dienerin bin.
Schaut! Von jetzt an werden mich alle Generationen selig preisen.
Denn Gott, der mächtig ist, handelt wunderbar an mir.
Sein Name ist heilig.
Er ist barmherzig zu denen, die ihn ehren und ihm vertrauen

von Generation zu Generation, denn…“

Und jetzt steht da nicht: „Denn ich werde die berühmteste Mutter der Welt sein!“ Nein. Marias Traum ist von politischer Natur! Sie singt:

„Denn Gott hebt seinen starken Arm und fegt die Überheblichen hinweg.
Er stürzt die Machthaber vom Thron und hebt die Unbedeutenden empor.
Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
Er erinnert sich an seine Barmherzigkeit
Und kommt seinem Diener Israel zu Hilfe.
So hat er es unseren Vätern versprochen:

Abraham und seinen Nachkommen für alle Zeiten.“

Marias große Sehnsucht ist der Umsturz der Gesellschaft! Der ungerechten Verhältnisse. Ist die Befreiung ihres Volkes. Ist die Aufrichtung des Friedens. Ihre Sehnsucht ist die Erfüllung der großen Verheißung Gottes an das Volk Israel: Der Messias wird kommen: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friedefürst. Seine Macht wird groß sein und seiner Friedensherrschaft wird kein Ende sein.

Und wenn Maria zu Gottes Plan, dass sie die Mutter Jesu wird, „Ja“ sagt, dann nicht, weil sie Kinder so mag, sondern weil sie auf diese Weise das ihrige dafür tun kann, dass ihr großer Traum in Erfüllung geht. Mutter Gottes zu werden, ist sozusagen das Mittel zum Zweck.

Ich bin übrigens davon überzeugt: Gott weiß um Marias großen Traum. Und wählt genau darum sie aus. Weil Gott daran gelegen ist, dass wir Menschen unserer Bestimmung gemäß leben. Weil Gott dazu seinen ganzen Segen und seine Gnade geben will.

Daher: als der Engel zu ihr spricht und ihr von Gottes Plan erzählt, da versucht dieser Engel es gar nicht erst mit Worten, die für einige andere jungen Frauen vielleicht attraktiv geklungen hätten:

„Maria, du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Nenne ihn Jesus. Er wird sooo süß und knuffig sein…“

Nein. Das würde in Maria nichts anstoßen. Stattdessen sagt der Engel: „Maria, du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Gib ihm den Namen Jesus. Er wird Gottes Sohn sein. Gott wird ihm den Thron seines Vorfahren König David geben. Er wird für immer als König über die Nachkommen Israels herrschen, und seine Friedensherrschaft wird niemals aufhören.“

Das ist es! Das ist es, was Maria will. Und darum sagt sie „Ja“.

Von außen betrachtet ändert sich an Marias Lebenslauf erst mal nichts. Gut, ihr Verlobter Josef muss noch akzeptieren, dass sein erstes Kind ein Pflegekind ist. Aber sonst: Maria wird heiraten, wie geplant. Sie wird umziehen. Sie wird weitere Kinder bekommen. Sie wird Wert auf eine jüdisch-religiöse Ausbildung der Kinder legen. Sie wird den Haushalt führen – alles fast genauso, wie gedacht und geplant. Mit einem gewaltigen Unterschied: Vorher war dieser Lebensweg einfach nur ein Lebensweg. Jetzt ist dieser Lebensweg ihr persönlicher und von Gott geheiligter Lebensweg.

Vorher führte dieser Weg irgendwo hin. Jetzt, nach der Berufung, Begnadung und Segnung durch Gott, wird dieses Leben zu Marias Weg, ihren Traum zu erfüllen. Ihre Bestimmung zu leben. Teil der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt zu werden.

Was für eine Veränderung!          

Ich möchte dir folgende Fragen mit auf den Weg geben:

            Warum bist du hier?
            Was ist dein Traum?
            Was erfüllt dich?
            Wonach sehnst du dich am allermeisten?

            Was macht dich froh?

Ich bin sicher, du hast in deinem Leben schon einige Entscheidungen getroffen, die bewusst oder unbewusst der Erfüllung deiner Bestimmung dienten. Vielleicht ist dein großer Traum schon in Erfüllung gegangen oder geht gerade in Erfüllung. Vielleicht lebst du schon als Gesegnete und Begnadete, als Gesegneter und Begnadeter des Herrn! Wie gut, du gesegnete Frau, du begnadeter Mann!

Aber wenn nicht – dann wird es vielleicht Zeit, dass du dir diese Fragen stellst.

Manchmal sind die Türen einfach zu, und wir können nichts ändern an der Situation, in der wir leben. Aber: wenn die Tür plötzlich aufspringt, während du dein Tun und Schaffen hast – und wenn plötzlich im Licht und im Wind Gottes der Staub zu tanzen beginnt und Gott dein Leben zur Erfüllung bringen will – dann sag nicht: „Nein.“ Oder: „Später“.

Dann sag „Ja“.

 

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