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Denn da war immer Licht

 

Bei der Amtseinführung des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden am 20. Januar 2021 trug die damals 22jährige Amanda Gorman ihr Gedicht vor: „The Hill We Climb“ – Der Berg, den wir erklimmen. Mehr als fünf Minuten sprach sie darin über ihr Erbe. Über ihre Abstammung von Menschen, die versklavt lebten. Über ihre Träume von der Zukunft. Sie sprach von dem Land, in dem sie lebt, legte den Finger in die Wunden der Gesellschaft und sprach zugleich von Hoffnung auf Versöhnung. Ihr Gedicht endete mit den Worten:

„The new dawn blooms as we free it. For there was always light, if only we’re brave enough to see it. If only we’re brave enough to be it.

„Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien. Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

Während so einer Amtseinführung werden viele Worte gemacht, aber es ist dieses Gedicht, das in Erinnerung geblieben ist und das weltweit von vielen Millionen Menschen auf Youtube angehört, in andere Sprachen übersetzt und immer wieder gelesen und zitiert wurde. Und es hat Menschen ermutigt. „Mut“ kommt von dem altdeutschen Wort „muot“ und bedeutet: Herzenskraft.

In Europa kam es zu einer Debatte über die Frage, wer das Gedicht übersetzen sollte. In den Niederlanden wurde zunächst die weiße Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld damit beauftragt, das Gedicht ins Niederländische zu übertragen. Das beschrieb die Publizistin Janice Deul als „verpasste Chance“. Dieser Hinweis wurde schnell auf die Frage zugespitzt: Wer darf das Gedicht einer schwarzen Frau, deren Vorfahren versklavt wurden, übersetzen?

Für die deutsche Übertragung hatte der Verlag Hoffmann und Campe sich für das Zusammenwirken von drei Frauen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund entschieden. Eine von ihnen, die Publizistin Kübra Gümüşay, nimmt zu der Identitäts- und Rassismusdebatte folgendermaßen Stellung:

„Das Ziel ist nicht zu sagen, alle müssen nur noch aus ihrer rassifizierten Kategorie heraus sprechen, also immer sagen: Ich als weißer Mensch, ich als Schwarze Person, ich als muslimische Person, ich als homosexuelle Person. Sondern: Das Benennen der jeweiligen Position ist ja nur notwendig, um sichtbar zu machen, welche Mauern sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Der zweite Schritt ist ja, diese Mauern aufzubrechen, sodass sie offenere, facettenreichere, verbindendere Gesellschaften sein können, in denen Menschen wirklich selbstbewusst, respektvoll, friedvoll miteinander leben können.“

Im Mai 2023 wurde in einer Grundschule im US-Staat Florida das zu Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ gehörende gleichnamige Buch als Lesestoff verboten. Die Mutter einer Schülerin hatte sich beschwert: Das Buch enthalte indirekte Hassbotschaften. Amanda Gorman reagierte auf das Verbot erschüttert und niedergeschlagen und kündigte Widerstand an.

Beide Reaktionen, sowohl die Übersetzungsdebatte in Europa, als auch das Buchverbot in Florida – so unterschiedlich sie sind, zeigen: Die starken und hell leuchtenden Worte des Gedichts „The Hill We Climb“ können nicht über die Schwierigkeiten unseres gesellschaftlichen Miteinanders hinwegtäuschen, das immer noch und immer wieder ein Gegeneinander ist. Und sie wollen auch nicht darüber hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Sie nennen sie beim Namen. Aber zugleich verharren sie nicht in Verzweiflung, sondern lenken unsere Gedanken in Richtung Hoffnung:

„Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien. Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

Der Bibeltext, auf den ich mich im folgenden beziehe, steht im Epheserbrief und ist fast 2000 Jahre alt. Paulus (oder einer seiner Schüler in Paulus Namen) schreibt diesen Brief aus dem Gefängnis in Ephesus heraus. Die Stadt Ephesus, gelegen in der heutigen Türkei, war zu dieser Zeit ein wichtiges Handels- und Kulturzentrum im Mittelmeerraum und beherbergte den berühmten Artemistempel. Paulus war aufgrund seiner missionarischen Arbeit – als Gründer christlicher Gemeinden – gefangen genommen und eingesperrt worden. Und ich gehe davon aus, dass auch die Menschen, an die er sein Schreiben richtet, also die Christinnen und Christen in Ephesus, ebenfalls mit öffentlicher Anfeindung zu rechnen hatten.

Wenn man sich die schwierige und vielleicht sogar verzweifelte und lebensbedrohende Situation des Paulus und die gefährdete Situation der Christinnen und Christen in Ephesus vor Augen führt, verwundert es schon, dass Paulus sein Schreiben mit so starken und leuchtenden Worten beginnt, wie wir sie in der Lesung gehört haben:

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er hat uns gesegnet mit allem Segen, der von seinem Geist erfüllt ist. Im Himmel hält er ihn für uns bereit. Denn wir gehören zu Christus.

Hätte er nicht besser mit folgenden Worten beginnen sollen?

Geklagt sei zu Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus! Denn ich bin im Gefängnis, eingesperrt hinter Mauern. Ich sehe keinen Himmel mehr und fühle mich alleingelassen. Und ihr seid ebenfalls in Gefahr!

Da wäre doch eigentlich eine angemessene Beschreibung der Wirklichkeit gewesen. Stattdessen wählt Paulus Worte, die ihn und die Menschen, an die er diesen Brief schreibt, in einer anderen Wirklichkeit verorten, nämlich in der Wirklichkeit Gottes. Und diese besagt: Wir sind gesegnet. Wir sind von heiligem Geist erfüllt. Wir gehören zu Christus. Und das von Anbeginn der Zeit. Noch bevor die Welt erschaffen wurde, hat Gott uns bereits erwählt. Und wozu: In der Liebe zu sein. Kinder Gottes zu sein. Aus Vergebung zu leben. Beschenkt mit Gnade, mit Weisheit und Einsicht. Einsicht in die Geheimnisse des göttlichen Willens.

Und was ist der göttliche Wille? Im biblischen Text wird er so beschrieben: „Unter Christus als dem Haupt sollte alles zusammengefasst werden im Himmel und auf der Erde.“ Der göttliche Wille ist also die Einheit aller Menschen. Und mehr noch: Die Einheit von allem im Himmel und auf Erden. Durch Christus, und das heißt: Durch die Liebe, die uns in Christus offenbart ist. Durch die Liebe, die Trennungen überwindet. Die böse Mächte und Gewalten so verwandeln kann, dass sie zur Güte bemächtigt werden.

Unvorstellbar, dass so etwas geschieht?

Ja, unvorstellbar.

Und zugleich die Verheißung Gottes an die Welt. Und als wesentliche Mitgestalterinnen und Mitgestalter dieser Verwandlung hat Gott, so schreibt Paulus weiter, alle eingesetzt, die zu Christus gehören.

In dieser Verwandlung der Mächte, in der Überwindung von Trennung, in der Suche nach Einheit aller Menschen verwirklicht sich das, was Gottes Wille für die Welt ist. Der biblische Text nennt dieses Geschehen das „Lob seiner Herrlichkeit“. Und unser Beten, Denken, Reden und Tun als Christinnen und Christen darf und soll daran mitwirken.

Was für ein Perspektivwechsel!

Nun ja, mag man denken, aber das ändert ja nichts daran, dass Paulus im Gefängnis sitzt. Das ändert nichts daran, dass heutzutage Menschen nach wie vor Rassismus, Unterdrückung, Krieg und Gewalt ausgesetzt sind.

Und es ändert auch nichts daran, dass wir in unserem ganz eigenen und persönlichen Leben in Krisen geraten, die uns zu schaffen machen. Dass wir immer wieder ein Gegeneinander statt ein Miteinander erleben.

Das stimmt. An den äußeren Umständen ändert sich zunächst nichts. Aber es ändert sich etwas an unserer inneren Haltung und Ausrichtung. Gründen wir uns in dem, was uns schwächt, was uns einengt und trennt, was uns das Herz und das Handeln schwer macht? Oder gründen wir uns in dem, was uns aufrichtet und stärkt, was unseren inneren Horizont weitet und unser Herz mit Liebe und Zuversicht erfüllt, nämlich in der göttlichen Zusage: Wir gehören von Anfang an und über alle Zeit hinaus zu Christus und sind Mitgestalter*innen und Mitgestalter einer besseren Welt.

Wenn ich mich entscheiden darf, dann wähle ich die zweite Perspektive. Und du bist eingeladen, das ebenfalls zu tun.

„Denn da war immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

 

Quellenangaben:

US-Poetin Amanda Gorman – Wie übersetzt man „The Hill We Climb“? (deutschlandfunkkultur.de)

Schule in Florida verbietet Amanda Gormans „The Hill We Climb“ | NDR.de – Kultur – Buch

Prayer for Peace

(März 2022)

 

Breath of life,

come into every corner of our homes and minds.

Fall with sunlight through our windows.

Speak to us through birdsong.

Touch, connect, comfort the great pain.

Woe through our patters of explanation.

Defy all hopelessness.

Teach us the art of forging swords into plowshares.

Settle down in courageous hearts

and renew the world with your presence.

 

Don´t look up

Vor kurzem habe ich den Film „Don’t look up“ angeschaut. Ein irrer Plot: Die Doktorandin Kate entdeckt zusammen mit ihrem Chef, Dr. Randal Mindy, einen Kometen, groß wie der Mount Everest, der direkt auf die Erde zurast. Sie alarmieren das Weiße Haus, sie gehen an die Presse, sie treten im Fernsehen auf, um auf die schreckliche Realität hinzuweisen. Und das mit mehr oder weniger großem Erfolg. Denn viele sagen: „Das sind doch Fake-News!“

Endlich dann doch der Beschluss der Präsidentin: Mit Atomraketen soll der Komet gesprengt werden, bevor er auf der Erde einschlägt. Die Mission läuft – und wird abgebrochen. Warum? Weil der Komet wertvolle Rohstoffe enthält – und die Präsidentin zusammen mit einem reichen Visionär und Technik-Entwickler die wahnwitzige Idee hat, den Kometen im All in kleinere Teile zu zerlegen und diese auf der Erde einschlagen zu lassen, um die Edelmetalle zu gewinnen.

Dr. Mindy, die Doktorandin Kate und mit ihnen viele andere sind entsetzt: „Look up!“ rufen sie. „Guckt nach oben! Da rast ein riesiger Komet auf uns zu und wird die ganze Erde vernichten!“ – „Don’t look up!“, kontern die Präsidentin, der Tech-Guru und all ihre Anhänger. „Guckt nicht nach oben, freut euch lieber auf den Reichtum, den uns der Komet bringen wird.“

Die Sache geht (ganz untypisch für einen amerikanischen Blockbuster) total schief, und für die Menschheit und den Planeten Erde hat das letzte Stündlein geschlagen.

***

Der Film ist wie eine Parabel. Ein Gleichnis.  Es ist ein Film, der einem nachgeht, über den man reden kann, reden muss. Eine junge Frau, 27 Jahre alt, Maskenbildnerin, sagte mir: „Der Film hat mir richtig Angst gemacht. Ich konnte nächtelang nicht schlafen. Weil ich dachte: Genauso ist es. Genau das würde passieren, wenn so ein Komet kommt. Die würden unser Leben riskieren, nur um Profit zu machen. Und eigentlich ist es jetzt schon so.“

Kurz vor Schluss des Filmes folgende Szene: Am Abend, an dem die Welt untergeht, kommen die Protagonisten noch einmal zusammen: Dr. Mindy, seine Frau und seine Söhne. Die Doktorandin Kate und ihr Lover. Auch Teddy, der ehemalige Chef der intergalaktischen Verteidigung, ist dabei. Im kleinen Kreis mit der engsten Familie und den engsten Freunden versammeln sie sich, kochen und essen zusammen. Sie sitzen um einen Tisch herum und tauschen Erinnerungen aus: Erlebnisse, Taten, Worte, Entscheidungen, für die sie dankbar sind. Sie sind auch dankbar, dass sie es versucht haben. Dass sie mit all ihren Mitteln versucht haben, die Katastrophe zu verhindern.

Dann folgt ein kurzes, unbeholfenes Schweigen. Dr. Mindy sagt: „Wir sind nicht so besonders religiös, hier im Haus, aber vielleicht sagen wir jetzt einfach Amen?“ Er blickt zu seiner Frau. „Sieh mich nicht an…“, sagt sie, „ich bin nicht sicher … sagt man einfach Amen?“ Da ergreift der junge Mann an Kates Seite das Wort. Wir haben ihn erst in der zweiten Hälfte des Filmes kennengelernt. Er gehört scheinbar zu den Outlaws, zu denen, denen alles egal ist (wie er selbst sagt), mit seinem Skateboard und seinen leeren Taschen. Er ist evangelikal erzogen worden, hat sich davon befreit – und dann seinen ganz eigenen Zugang zu Gott gefunden.

An diesem letzten Abend der Erde, als keiner der Anwesenden weiß, wie man beten soll, sagt er: „Ich kann das machen. Ich mach das. Mach ich.“ Und dann reichen die sieben Menschen einander die Hände und schließen die Augen. Der junge Mann betet:

„Gütiger Vater, allmächtiger Schöpfer.

Wir bitten dich um deine Gnade trotz unseres Hochmuts.

Um deine Vergebung trotz unseres Zweifels.

Vor allem aber, Herr, bitten wir um deine Liebe,

die uns in diesen dunklen Zeiten Trost spenden möge.

Gib uns die Kraft, deine Taten nach deinem göttlichen Willen

und mit offenem Herzen anzunehmen.

Amen.“

 

Und dann geht die Welt unter.

***

Ich wünsche mir, dass es uns in die Seele hineingeprägt wird, zu lieben, die Schöpfung zu bewahren, Frieden zu stiften, um Gerechtigkeit zu ringen, die Wahrheit zu suchen. Und wir uns zusammentun mit Gleichgesinnten – ganz gleich welcher Religion, Kultur oder politischen Ausrichtung. Und auch davon handelt der Film: Wie diejenigen, die die die Wahrheit suchen, zusammen stehen, zusammen kämpfen – und zusammen scheitern.

Was mich an dieser Schlussszene besonders berührt, ist die Sprachlosigkeit all dieser guten Menschen, wenn es ums Letzte geht. Und die Sprachfähigkeit des einen jungen Mannes, der an Gott glaubt:

Beten können. Worte finden für die Hinwendung zu Gott. Das Erlebte transzendieren können. Die Realität in Gottes Dimension gründen können. Gott auf die Erde holen können. Das Leben heiligen können. Die Heiligkeit des Lebens in Worte und Gesten fassen können. Im Leben wie im Sterben gehalten sein bei Gott.

Diese Schlussszene ist richtig lang, fast eine halbe Stunde. Und dazwischen immer wieder Einblendungen von der Schöpfung und vom Untergang der Welt, dem Einschlag des Kometen, der Flutwelle, dem Brand, der Verwüstung. In ihr wird für mich deutlich: Wir brauchen eine spirituelle Sprachfähigkeit. Und zwar eine, die nicht nur innerkirchlich was taugt. Sondern eine, die in der Gemeinschaft von Glaubenden und Nichtglaubenden, von Zweifelnden und Atheisten trägt und hält und verbindet.

Der letzten Satz dieser Tischgemeinschaft, bevor die Flutwelle sie erreicht, stammt von Dr. Mindy, der sagt: „Wir hatten alles, was man sich wünschen kann.“ Diese Erkenntnis kommt ganz am Schluss des Films. Zu spät. Aber für uns als Publikum ist das natürlich nicht der letzte Satz, sondern der erste, nämlich der, mit dem wir uns wieder unserer Lebenswelt zuwenden und uns umschauen: „Wir haben doch eigentlich alles, was man sich wünschen kann.“

Mit dieser Haltung möchte ich heute in den Tag gehen: „Gemeinsam haben wir alles, was man sich nur wünschen kann.“ Lasst uns mit Dankbarkeit und Mut und offenem Herzen einander begegnen, so dass Gott in unserer Mitte Raum gewinnt. Lasst uns die Wahrheit suchen, die Menschen lieben, die Erde bewahren, um Gerechtigkeit ringen und Frieden stiften.

 

Ein Glaubensbekenntnis

Ich glaube,

dass die Wahrheit der Liebe den Weg ebnet

und dass die Liebe der Wahrheit den Weg ebnet.

Manchmal prescht eine vor. Und wundert sich und bangt, ob die andere wohl nachkommt oder zurückgeblieben und verloren gegangen ist. Dann ist das Elend groß.

Besser ist es für die beiden, in Tuchfühlung zu bleiben, mit Blickkontakt. Zuweilen Hand in Hand – und etwas langsamer wohl dann – den Weg zu ebnen. 

Einen Weg, den auch wir mitgehen können.

 

Hoffnungsanker

 

Lust, aufs Meer hinaus zu fahren?

Im Christentum haben die drei großen Werte Glaube, Liebe und Hoffnung Symbole zugeordnet bekommen, und das Symbol für Hoffnung ist der Anker.

Die klassische Vorstellung eines Ankers ist aus Metall und hat unten zwei Zacken, die nach oben zeigen.

Es gibt aber noch andere Anker, zum Beispiel den Treib- oder Seeanker.

So ein Seeanker hat Ähnlichkeit mit einem Fallschirm. Er ist an Seilen befestigt und wird vom Boot aus ins Wasser gelassen. Im Prinzip eine Art Tüte, die kaputt ist, also an beiden Enden ein Loch hat. Durch die eine Öffnung fließt ganz viel Wasser rein, durch die andere Öffnung aber nur wenig Wasser wieder raus. So sorgt der Seeanker dafür, dass das Boot sich nicht quer zu den Wellen stellt und kentert. Er stabilisiert das Boot im Sturm und bei wilder See.

Natürlich, wenn man die Kontrolle verloren hat und der Seeanker das Boot stabilisiert, dann fühlt sich das nicht gerade gemütlich an. Das Boot geht mit den Wellen auf und ab, hin und her. Aber es bleibt stabil. Es geht nicht unter.

Wenn so ein Seeanker als Symbol für Hoffnung steht, dann heißt das: Hoffnung stabilisiert. Lässt uns schwierige Zeiten aushalten und durchstehen.

Welchen Mächten vertrauen wir uns eigentlich an, wenn der Sturm tobt? Was ist unser See- oder Treibanker? Welche Hoffnungen halten uns in Balance und geben uns den inneren Halt, den wir im stürmischen Zeiten brauchen? 

Es gibt übrigens noch eine andere Möglichkeit, so einen Seeanker zu nutzen. Und die finde ich ebenso spannend.

Die „Straße von Gibraltar“ ist eine Meerenge und verbindet das Mittelmeer mit dem Atlantik. Sie ist vermutlich eine der am meisten befahrenen Wasserstraßen unserer Welt. An der Oberfläche strömt das Wasser immer von Westen nach Osten, denn das Mittelmeer liegt fast anderthalb Meter tiefer als der Atlantik. Dazu weht auch der Wind meist von Westen her. Schwierig für ein Segelschiff, da durch zu kommen. Wenn es nicht den Seeanker gäbe.

Ja, denn ganz unten, in der Tiefe des Meeres, gibt es eine Gegenströmung. Das salzhaltigere Wasser fließt in den Atlantik. Möglicherweise nutzten Schiffer schon in der Antike diese Gegenströmung: ein Seeanker wurde tief ins Meer hinuntergelassen und zog das Schiff mit sich, durch die Meerenge hindurch ins Weite.

In welchen Tiefenstrom hängen wir eigentlich unseren Hoffnungsanker, um weiter zu kommen, um trotz Gegenwind auf Kurs zu bleiben und trotz aller Engpässe unser Ziel zu erreichen?

Übrigens spricht auch der Philosoph Ernst Bloch in seinem Werk „Das Prinzip Hoffnung“ von einem Strom: Unsere Hoffnungen durchfließen, so schreibt er,  gesellschaftliche Entwicklungen und Kämpfe wie ein „Wärmestrom“ und stärken das „In-Möglichkeit-Seiende“. Unsere dringliche Hoffnung trägt also maßgeblich dazu bei, dass unsere Träume von einer besseren Welt Wirklichkeit werden. Allein darum sollten wir das Hoffen niemals aufgeben.

Song: Du bist der Anker

Die „HEUTE NICHT-Methode“ zum Umgang mit negativen Gedanken

Kennst du schon
die „HEUTE NICHT!-Methode“?

Die geht so:
Wenn ein mieser,
vernichtender Gedanke
auf dich zukommt,
im direkten Anflug,
um sich in deinem Herzen
und deinem Hirn
breit zu machen
und dir diesen Tag
zu verderben,
dann sag zu ihm:
„HEUTE NICHT, mein Freund!
Du hast mir
gestern den Tag verdorben
und vorgestern auch,
und vermutlich wirst du mir
auch morgen den Tag verderben,
aber HEUTE NICHT!“

Und dann gönn dir
diesen schönen, freien Tag!

Und… pst… noch ein Geheimtipp für Profis:
Du musst dem miesen, vernichtenden Gedanken
unbedingt in Aussicht stellen,
dass er morgen wieder kommen
und dich so richtig fertig machen darf.
Ansonsten lässt er sich nicht darauf ein,
dich für einen Tag
in Ruhe zu lassen.
Verweise ihn auf morgen.
Und morgen… da verweist du ihn auf übermorgen.
Und übermorgen… verweist du ihn auf nächste Woche.
Und nächste Woche,
da hat er dich vielleicht vergessen!

Und falls nicht: dann kannst du ihm
(ich sag's laut, damit er es ebenfalls hört)
ja mal einen Tag gönnen, an dem er dich
so richtig fertig machen darf.
Aber NICHT HEUTE!
Morgen. (Vielleicht…) ;-) Pst.

diegutesaat

Von Kirschbäumen, der guten Saat und dem Gedeihen von Projekten

Ich habe einen kleinen Garten. In diesen kleinen Garten habe ich vor ca. fünf Jahren einen Kirschbaum gepflanzt. Er ist bis heute jämmerliche zwölf cm gewachsen. An seinem Standort gibt es eine Handbreit Erde, und darunter nur Lehmgestein. Seit fünf Jahren ist mir dieses Bäumchen ein ständiger Vorwurf. Es wird nie tief wurzeln. Es ist anfällig für Krankheiten. Ohne Dünger wächst es gar nicht. Und im nächsten Dürresommer geht es vermutlich ein. So pflanzt man keinen Baum, oder?

Und so platziert man auch kein Projekt! Eine Idee/ein Projekt braucht guten Boden, es muss gut platziert werden!

Hier sind meine Top 5 für ein gut platziertes Projekt:

  1. Platziere die Idee/das Projekt in ein Team hinein, das richtig Lust auf das Projekt und auf die Zusammenarbeit hat.
  2. Triff die Entscheidung für das Projekt frühzeitig und definitiv.
  3. Stelle ausreichend Ressourcen zur Verfügung.
  4. Kläre die Teamstruktur. Ich sage immer: Hüte verteilen! Wer hat für was die Verantwortung? Wer hat den Hut auf?
  5. Gönne dem Projekt ein phantastisches Marketing.

Wie kommt es, dass trotzdem Kraft verpufft und ein gut platziertes Projekt eingeht? Möglicherweise gibt es Gegenkräfte, und die schauen wir uns jetzt mal an. Dazu zitiere ich ein Gleichnis aus der Bibel:

„Ein Sämann ging aus, um zu säen. Und von dem, was er säte, fiel einiges auf felsigen Boden, und weil es keine tiefen Wurzeln bilden konnte, verdorrte es. Anderes fiel unter die Dornen, und die Dornen erstickten’s. Anderes fiel auf den Weg; da kamen die Vögel und fraßen’s auf. Das übrige aber fiel auf gutes Land, ging auf und wuchs und brachte Frucht, einiges sogar mehr als erwartet. – Hört gut zu, denn das ist wichtig.“ (Jesus, in Matthäus 13)

Die Sache mit dem guten Boden (statt Felsgestein) hatten wir schon. Kommen wir zu den Dornen. Was sind das für Dornen, die eine gute Idee/ein gutes Projekt schon im Keim ersticken, die Kraft rauben und Wachstum verhindern? 

Hier ist meine Top 5 Liste an Dornen:

  1. Lange Sitzungen, in denen Probleme durch Diskutieren nicht kleiner werden. Das einzige, was kleiner wird, sind Zeit und Energie, um die Probleme zu lösen.
  2. Langwierige oder ungeklärte Prüfungs- und Entscheidungswege. Nicht jede Entscheidung ist richtig. Aber nicht zu entscheiden, ist auf jeden Fall falsch.
  3. Kraftzehrende Kolleginnen und Kollegen. Es gibt Leute, die verhindern einen Erfolg. Und diese Leute kriechen immer wieder – wie Dornen – aus dem Boden.
  4. Aufgaben und Termine, die nichts mit dem Projekt zu tun haben.
  5. Schlechte Laune (ganz mieses Dornengestrüpp. Nimmt einem die Lust und die nötige Hoffnung. Was dagegen hilft: Tanzen! Und den passenden Song dafür gibt´s hier: Tanzhaltung!)

Jetzt zu dem, was auf den Weg fällt. Wir müssen das Projekt und das Team schützen. Vor Vögeln, die es auffressen. Und davor, dass es niedergetrampelt, „mit Füßen getreten“ wird.

Hier meine Liste der heftigsten Tritte:

  1. Das Projekt wird immer wieder grundsätzlich oder in Teilen in Frage gestellt.
  2. Das Projekt wird in seiner Bedeutung „downgegraded“: Das Budget wird gekürzt, Mitarbeitende werden abgezogen, im Marketing-Ranking wandert es nach unten.
  3. Neue Entscheidungsträger tauchen auf.
  4. Alle wollen mitreden, und das Projekt wird profillos (es wird sein Profil los)
  5. Mitten im Flow werden Ziele geändert.

Schütze die Idee/das Projekt/das Team vor diesen Tritten! Du weißt nämlich nicht, ob es so einen Tritt überlebt.

Und dann gibt es noch die Vögel, die ein gutes Projekt einfach wegpicken: der aus meiner Sicht absolute Killervogel ist Missgunst. So viel Gutes ist schon durch Missgunst verhindert worden. Wehre diesen Vogel ab, sobald er sich zeigt!

Ja, und dann gilt es, das zarte Pflänzchen beim Wachsen zu unterstützen, das Projekt und das Team zu stärken. Das heißt:

  1. Ermutigen und Orientieren, immer wieder auf das Ziel hin ausrichten
  2. Zwischenerfolge feiern
  3. Entscheidungen treffen, und zwar immer zugunsten des Projekterfolgs
  4. Nachfragen: Wie geht´s euch? Was braucht ihr, damit das Projekt nochbesser läuft?
  5. Und vielleicht das wichtigste: Wachsen lassen.

Wachsen lassen – damit etwas daraus werden kann, das größer ist als die ursprüngliche Idee. Größer als jedes einzelne Teammitglied, größer als das Team, und vor allem: größer als du selbst. Es wird ausstrahlen! Es wird um sich herum Leben hervorrufen. Neue Ideen werden entstehen. Neue Projekte sind schon in Sicht. Neue Ressourcen stehen bereit. Neue Kräfte wollen entdeckt, benannt und freigesetzt werden. Und wenn das geschieht, dann blühst auch du wieder auf.

Free the power!

Vom Aufraffen und Aufstehen

(Bibelarbeit zu Mk 5, 21ff.)

Heute geht es um Aufraffen und Niederfallen. Um Stillliegen und Aufstehen. Um Stehenbleiben und Weitergehen. Und um eine ganz besondere Verbindung.

Steigen wir ein in die biblische Geschichte von der Auferweckung eines Mädchens und der Heilung einer blutenden Frau.

Jesus war mal wieder mit seinen Jüngern im Fischerboot über den See gefahren. Kaum am anderen Ufer angekommen, versammelte sich eine große Menschenmenge um ihn. Die Leute hatten schon auf Jesus gewartet.

Das ist das Setting, und hier ist noch einmal die Geschichte:

… Es kam einer der Synagogenleiter dazu. Mit Namen Jairus. Er sieht Jesus, wirft sich vor ihm nieder und fleht ihn an: „Komm in mein Haus! Meine Tochter liegt im Sterben. Leg ihr die Hände auf, damit sie gerettet wird und am Leben bleibt.“

Der Mensch, der hier zu Jesus kommt, gehört zur Stadtprominenz. Er ist Vorsteher des Ortes und der Gemeinde. Er steht somit für ein bestimmtes System, die Wirklichkeit zu deuten, Probleme zu lösen und die Gesellschaft zusammen zu halten. Aber jetzt steht er nicht als Synagogenleiter vor Jesus, sondern als Vater. Er hat ein Problem, das er mit seinem Können nicht lösen kann. Es geht um das Leben seiner Tochter. Darum wirft er sich vor Jesus nieder. In aller Öffentlichkeit. Es ist eine Kapitulation. Und zugleich Ausdruck seiner letzten Hoffnung: „Leg du ihr die Hände auf, dann wird sie gerettet.“ Jesus zögert nicht. Er geht mit ihm.

Wegmarke: Mitgehen.

Wenn ich diese Worte höre: „Er geht mit ihm“ – atme ich innerlich auf. Denn das Wissen, dass Jesus, der Inbegriff aller Lebenskraft, mit ihm geht, ist wie ein Vorwegnehmen dessen, was noch geschehen wird. „Er geht mit ihm“ ist eine Verheißung, ein großer Trost. Warum? Weil ich weiß: Wenn Jesus mit einem Menschen mitgeht, dann wird er diesen Menschen nicht im Stich lassen, sondern wird bis zum Ende und durch das Ende hindurch bei diesem Menschen bleiben. Das ist der Ausgangspunkt, an dem auch wir uns festhalten können: Die göttliche Liebe geht mit uns, bis zum Ende und durch das Ende hindurch.

Auf diesem Weg wird Jesus von der Volksmenge fast erdrückt. Die gehen nämlich ebenfalls alle mit! Sie haben gesehen, wie sich ihr Orts- und Gemeindevorsteher flehentlich Jesus zu Füßen geworfen hat. Und wollen nun natürlich sehen, was weiter passiert. Ganz schön schwer für Jesus und Jairus, durch dieses Gedränge hindurchzukommen.

Und dann plötzlich – bleibt Jesus stehen und sagt: „Wer hat mich berührt?“ Äh, Jesus… du siehst doch, wie sich die Menschenmassen um dich drängen. Alle berühren dich!“

Aber Jesus bleibt dabei: Jemand hat mich berührt!

Das war mehr als eine belanglose Berührung. Es war – nahezu magisch. Eine Kraft ist von Jesus ausgegangen, eine „dynamis“, wie es im griechischen Urtext heißt. Eine Dynamik wurde in Gang gebracht. Etwas hat sich bewegt. Etwas ist geschehen. Ausgelöst durch eine ganz gezielte Berührung. Jesus hat es gemerkt. Und geht nicht weiter.

Ich stelle mir Jesus hier vor wie so einen Akku, an den für einen kurzen Augenblick ein Gerät angeschlossen wird, das Energie aus ihm heraussaugt. Ich weiß nicht, ob da nur, sagen wir mal, 20% der Akkuladung von Jesus weggeflossen sind. Sprich, ob er durchaus auch hätte weitergehen können. Oder ob es zu einer Art Totalentladung kam, so dass er stehen bleiben musste. Tatsache ist: Jesus geht nicht weiter. Er bleibt stehen.

Wegmarke: Stehenbleiben.

Wir sind alle auf einem Weg. Auf unserem Weg. Vielleicht haben wir dabei auch ein konkretes Ziel vor Augen, eine Aufgabe, die es zu erledigen gilt. Einen Meilenstein des Lebens, den wir erreichen wollen. Und dann – auf dem Weg – passiert etwas. Etwas so Kraftzehrendes, dass wir stehen bleiben. Nicht mit halber Kraft weitergehen. Sondern stehen bleiben und anschauen, was geschehen ist. Und dabei den Akku wieder aufladen. Das ist etwas, das wir einüben können. Uns Zeit nehmen. Nicht darüber hinweggehen. Sondern anschauen. Verstehen. Akku aufladen. Und dann erst: Weitergehen.

„Jemand hat mich berührt“, sagt Jesus und blickt sich um.

Eine Frau tritt hervor, zitternd und voller Furcht. Sie tritt heraus aus der Verborgenheit in der Menge, aus der Anonymität. Sie weiß, was mit ihr geschehen ist, welche Dynamik sich da gerade abgespielt hat, im Verborgenen. Kein anderer Mensch hat es bemerkt. Nur Jesus und sie. Nun fällt auch sie – wie zuvor Jairus – vor Jesus nieder und erzählt ihm, Jesus, was ihr widerfahren ist. Was sie hier erzählt, ist höchst intim. Es betrifft ihr Innerstes. Und ich bin mir sicher, dass eben nicht die ganze Menschenmenge es hört. Ich glaube, die Frau flüstert. Jesus kniet sich hin und hält sein Ohr nah an ihren Mund, um sie zu hören.

„Zwölf Jahre lang habe ich an Blutungen gelitten. Ich war bei so vielen Ärzten. Ich habe so viel durchgemacht und mein ganzes Geld dafür ausgegeben. Alles, was ich besaß. Aber es hat nichts genützt, die Blutungen sind nur noch schlimmer geworden.“

Regelblutungen gehören zum Erfahrungshorizont einer Frau. Sie kommen und gehen. Sie stehen für das Ende eines Zyklus. Und nach dem Ende kommt der Anfang, der sogar neues Leben ermöglicht. Blutungen jedoch, die nicht mehr aufhören, stehen für ein Ende ohne Ende. Die Frau blutet seit zwölf Jahren. Ohne Unterbrechung. Blut steht für Lebenskraft. Zwölf Jahre lang fließt Lebenskraft von ihr fort. Das hieß nach den damaligen Hygieneregeln auch: Seit zwölf Jahren durfte sie keinen Menschen mehr umarmen, keinen Tisch mehr berühren, ohne dass dieser danach als unrein galt, ohne dass er danach desinfiziert werden musste. Zwölf Jahre lang ist diese Frau zu Arzt und Arzt gerannt, hat viel durchgemacht. Hat ihr ganzes Geld dafür ausgegeben. Aber nichts hat geholfen. Sie ist sozial vereinsamt und wirtschaftlich am Ende. Diese Frau blutet nicht nur körperlich. Ihr blutet auch das Herz. Und das ist genauso schlimm. Und das geht nun schon so lange. Sie blutet an Leib und Seele.

Dass sie an diesem Tag überhaupt noch Kraft schöpft, aufzustehen und loszugehen, ist an sich schon ein Wunder. Ein unglaublicher Akt der Selbstmotivation. Und der Zuversicht, nach allem und trotz allem, was sie durchgemacht hat. „Wenn ich nur seinen Mantel berühre, werde ich gesund“.

Das ist nun schon der zweite Mensch in dieser Geschichte, der alle Hoffnung auf Berührung setzt. Jairus, der zu Jesus sagt: „Leg du meiner Tochter die Hände auf, dann wird sie gerettet.“ Und nun diese Frau: „Wenn ich nur seinen Mantel berühre, werde ich gesund.“ So spricht sie sich selber Mut zu und rafft sich auf.

Wegmarke: Sich aufraffen.

Vom äußeren Rand der Gesellschaft, verausgabt und vereinsamt, rafft sie sich auf. Sie überwindet die Menschenmenge und alle Konventionen, die sie von Jesus trennen. Fokus auf Jesus. Fokus auf Heilung. Sie schiebt jeglichen Gedanken an die enttäuschenden Hilfeversuche der letzten zwölf Jahre beiseite. Sie schiebt alle Berührungsängste und schlimmen Erfahrungen im Zusammensein mit anderen Menschen beiseite. Sie drängt sich zu Jesus hindurch, berührt den Saum seines Gewandes und spürt im selben Moment, wie ihre Blutungen aufhören. Sie spürte es, so steht in der Bibel, „in ihrem Leib“. Sie spürte es noch nicht in ihrer Seele. Und das erklärt auch, warum sie vor Jesus zusammenbricht. Die Jahre des Leidens, des finanziellen Ruins, der immer wieder enttäuschten Suche nach Hilfe, der gesellschaftlichen Ächtung und Vereinzelung sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Ihre Seele ist nach wie vor verwundet.

Wegmarke: Niederfallen.

Jesus schaut die Frau an. Und sagt zu ihr: „Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden. Du bist endgültig von deinem Leiden befreit.“

Jesus nennt sie „Tochter“ und damit erklärt er sie für zugehörig, nimmt sie in die Gemeinschaft auf. Nicht nur ihr körperliches Leiden, sondern auch ihr soziales Leiden darf jetzt ein Ende finden. Das, was soeben geschehen ist, hat ab jetzt Gültigkeit. Es gibt kein Zurück in die Leidenssituation der vergangenen Jahre. Ein Wort des Friedens und der Zukunft ist dieser Frau zugesagt: „Du bist frei. Geh in Frieden“. Frieden – das bedeutet Harmonie und Verbundenheit – körperlich und seelisch. Die Frau steht auf und geht in Frieden ihren Weg weiter.

Wegmarke: In Frieden gehen.

Was für eine wundervolle Heilungsgeschichte!

Diese Heilungsgeschichte ist einzigartig im Neuen Testament, denn Jesus tut hier nicht willentlich ein Wunder, sondern das Wunder geschieht, als die Frau ihn berührt. Ihre Sehnsucht nach Heilung ist die Antriebskraft für das Wunder. Sie löst die Dynamik aus. Ihre Tapferkeit. Ihr Mut. Das Mut kommt vom althochdeutschen „muot“ und bedeutet Herzenskraft. Ihre Herzenskraft, ihre Liebe zu sich selbst löst das Wunder aus.

Und darum ist diese Heilungsgeschichte auch für uns als erwachsene Frauen besonders. Weil sie uns ermutigt: Warte nicht, bis Hilfe zu euch kommt. Erduldet nicht länger, worunter ihr leidet. Gebt euch nicht auf! Sondern rafft euch auf! Voll Glaube und Liebe zu euch selbst! Und mit klarem Fokus auf Heilung.

***

Und jetzt kommt eine ganz interessante Verbindung. Denn diese Heilungsgeschichte ist ja eigentlich nur eine Unterbrechung auf dem Weg. Auf dem Weg von Jesus zur Tochter des Jairus. Wir erinnern uns:

Es kam einer der Synagogenleiter dazu. Mit Namen Jairus. Er sieht Jesus, wirft sich vor ihm nieder und fleht ihn an: „Komm in mein Haus! Meine Tochter liegt im Sterben. Leg ihr die Hände auf, damit sie gerettet wird und am Leben bleibt.“

Und dann diese Unterbrechung durch die blutende Frau. Die so viel Zeit kostet. Während der nun folgenden Bewegung – die Frau drängt sich zu Jesus hin, berührt ihn – Kraft fließt von Jesus zu der Frau – Jesus bleibt stehen, dreht sich um – die Frau fällt vor ihm nieder – steht auf, geht weiter… während all dieser Dynamik liegt im Haus des Jairus ein sterbendes Mädchen.

Als Jesus noch mit der erwachsenen Frau spricht, ihr zuhört und sie dann in Freiheit und Frieden ins Leben sendet – kommt die Nachricht zu Jairus: „Deine Tochter ist gestorben. Wozu bemühst du den Lehrer noch?“

Stillstand.

Die Frau ohne Namen, die Jesus Tochter nennt, ist geheilt. Aber deine Tochter, Jairus, die ist jetzt tot. Es sieht so aus, als ob die Heilung der einen ein „zu Spät“ für die andere bedeutet.

In den Worten derer, die die Nachricht überbringen, liegt auch eine gewisse Herabsetzung: „Bemühe den Lehrer nicht mehr.“ Den „Lehrer“. Den Rabbi. Denn das ist es, was sie in Jesus sehen: einen, der gute Worte findet, die Wirklichkeit zu deuten. Aber keinen Retter. „Bemühe den Rabbi nicht mehr!“

Jesus jedoch will bemüht werden! „Hab keine Angst“, sagt er zu Jairus, „glaube nur!“

Ich sehe hier eine wunderbare Verbindung. Eben noch hat Jesus den großen Glauben der Frau erlebt und benannt. „Dein Glaube hat dich geheilt!“ Und jetzt ermutigt Jesus den Vater des Mädchens, ebenfalls zu glauben. Es ist, als reiche er den Glauben der Frau an Jairus weiter. Hier, nimm! Das hilft! Ich habe es eben selbst erlebt.

Wir erinnern uns an den Vergleich mit dem Akku. Möglicherweise konnte Jesus in der Begegnung, im Gespräch mit der Frau auch seinen Akku wieder aufladen. Segen fließt immer in beide Richtungen.

Und da ist nun Jairus, und ganz unterschiedliche Stimmen drängen zu ihm hin: „Gib auf. Du hast verloren“, sagen die einen Stimmen. „Hab keine Angst, glaube nur!“, sagt eine andere.

Wir hören unterschiedliche Worte. Und dürfen entscheiden, welchen Worten wir Glauben schenken. Welche Worte unser Handeln leiten sollen.

Jairus nimmt den Glauben an, den Jesus von der Frau ohne Namen geschenkt bekommen hat und den er nun an Jairus weiterreicht. Jairus entscheidet sich für Worte des Lebens und geht weiter.

Wegmarke: Weitergehen.

Weiter, bis zu seinem Haus, in dem seine Tochter liegt.

Wegmarke: Still liegen.

Jesus geht mit ihm. Die Verheißung gilt. Egal was geschieht: Ich gehe mit dir.

Im Haus treffen sie auf die Trauergesellschaft, und in der Bibel steht: „Sie weinten und klagten laut.“ Totenklage im damaligen Israel war keine stille Trauerfeier, wie wir sie kennen. Totenklage war laut und gehörte zu den heiligsten Pflichten. Angehörige, Nachbarn, Freunde und selbst Feinde hatten da zu sein und zu klagen. Unterstützt von professionellen Klageweibern und Flötenspielern. Je vornehmer das Haus, desto gellender die Klage. Man raufte sich die Haare und zerkratzte sich das Gesicht.

Mitten hinein in diese Todesklage ruft Jesus: „Was soll dieser Lärm?! Das Kind ist nicht gestorben. Es schläft nur…“

Die Leute, die eben noch lauthals geklagt haben, fangen an zu lachen. Sie lachen Jesus aus.

Jesus wirft sie alle raus. Alle. Nur die Eltern des Mädchens und ein paar Jünger dürfen bleiben. Da liegt das Mädchen. Bewegungslos. Herausgefallen aus der Gemeinschaft der Lebenden. Und wie zuvor bei der blutflüssigen Frau gilt nun hier nach damaliger Vorschrift: Tote dürfen nicht berührt werden.

Aber Jesus hat keine Berührungsängste. Er geht zum Totenbett, nimmt die Hand des Mädchens und sagt: „Mädchen, steh auf!“

Diesmal ist es Jesus, von dem die Berührung ausgeht. Ausgehen muss. Denn im Gegenteil zu der erwachsenen Frau ist es diesem Mädchen nicht mehr möglich, sich zu bewegen. Jesus aus eigener Kraft zu berühren. Sie brauchte einen Fürsprecher, der für sie zu Jesus läuft und ihn herbittet: ihren Vater. Sie braucht Jesus, der zu ihr ans Totenbett kommt. Und sie braucht die Glaubensstärke der erwachsenen Frau.

Es gibt verschiedene Art und Weisen, biblische Texte zu deuten. Was diese Geschichte angeht, so finde ich einen Blick aus der Perspektive der Tiefenpsychologie sehr erhellend.

In der Tiefenpsychologie ist die Rede von „inneren Kindern“. Jede und jeder von uns hat „innere Kinder“. Unser jüngeres Selbst, das als Erinnerung in unserem Unterbewusstsein da ist. Es steht symbolisch für im Gehirn gespeicherte Gefühle, Erinnerungen, Erfahrungen der eigenen Vergangenheit. Freude. Schmerz. Traurigkeit. Neugier. Verlassenheit. Zurückweisung. Wut. In der psychotherapeutischen Arbeit mit den inneren Kindern geht es um eine bewusste Spaltung zwischen dem fühlenden und erlebenden inneren Kind und dem erwachsenen, beobachtenden und mit-fühlenden Ich. Nicht mit-leiden. Sondern mit-fühlen. (Das ist ein großer Unterschied! Wer mitleidet, wird dabei selbst geschwächt. Wer mitfühlt, geht in Verbindung, bleibt aber selbst in der Stärke.)

Ziel dieser Arbeit ist zuallererst, dass sich das Erwachsene Selbst den inneren Kindern in Liebe zuwendet, seelische Wunden mitfühlend wahrnimmt, zerstörerische Glaubens- und Lebensmuster erkennt und betrauert und den inneren Kindern liebevoll die Hand reicht. Sie tröstet. Sie annimmt. Ihnen verzeiht. Sie herauslöst aus der Erstarrung der Vergangenheit und hineinnimmt in die Gegenwart.

Jesus nimmt das Mädchen an der Hand und ruft es ins Leben: Kleine Tochter, steh auf! Die Geschichte erzählt: Sofort stand das Mädchen auf und ging ein wenig umher.

Wegmarke: Aufstehen.

Wegmarke: … ein wenig Umhergehen.

Das finde ich ganz wunderbar: Sie ging ein wenig umher. Kleine Schritte in alltäglicher Umgebung. Und dann sagt Jesus: „Gebt ihr etwas zu essen!“ Kümmert euch gut um eure Kinder! Um die Kinder, die euch das Leben anvertraut hat. Und um eure inneren Kinder. Gebt ihnen eine gute Umgebung, in der sie erste Schritte der Heilung gehen können. Und gebt ihnen gute Nahrung. Damit sie sich erholen und langsam zu Kräften kommen.

Die Eltern und die Jünger sind außer sich. Eine Totenerweckung! Jesus schärft ihnen ein, nichts davon zu erzählen. Wir erinnern uns: Als er zuvor das Haus betrat, hat er die Trauergesellschaft zur Ordnung gerufen: „Das Kind ist nicht tot. Es schläft nur“. Vielleicht hat er das nur gesagt, damit es nicht später überall heißt, er hätte eine Tote auferweckt. Das kann sein. Wenn ich aber seine Aussage tiefenpsychologisch betrachte, dann steckt darin noch ein anderer Gedanke: Das innere Kind ist nicht tot. Es schläft nur. Und darum kann es geweckt und aus dem Stillstand herausgelöst werden. Es darf aufstehen und umhergehen, etwas essen und gesund werden. In diesem Umhergehen steckt Kraft. Es ist kein Sprint. Kein Marathon. Kein Berg wird bestiegen und kein Meer durchschwommen. Umhergehen ist viel kleiner. Aber es ist nicht nichts. Und es ist ein Anfang.

Zeit zum Nachdenken und für Austausch: An welcher Wegmarke befindest du dich?

  • Mitgehen
  • Stehenbleiben
  • Sich aufraffen
  • Niederfallen
  • In Frieden gehen
  • Weitergehen
  • Still liegen
  • Aufstehen
  • … ein wenig Umhergehen

Die Geschichte von der Heilung der blutenden Frau und der Auferweckung der Tochter des Jairus erzählt der Notlage von Menschen, die aus der Gemeinschaft der Lebenden herausgefallen sind. Bei denen nichts mehr geht. Und von der Überwindung dieser Not.

Sie erzählt von der Kraft der Verzweiflung und der Zuversicht, die einen Menschen in Bewegung setzen kann. Um Hilfe zu erfahren. Um gerettet zu werden. Glaube nur! Raffe dich auf! Suche die Berührung mit dem, wovon Leben und Heilung ausgehen!“

Die Geschichte ruft dazu auf, herauszutreten aus der vermeintlichen Namen- und Bedeutungslosigkeit: Es ist von Bedeutung, wer du bist.

Die Geschichte erzählt von Todesschwachheit. Vom Angewiesensein auf einen Fürsprecher oder eine Fürsprecherin. Auf einen Menschen, der das Elend sieht, der zum Himmel schreit und Hilfe holt.

Sie ist also auch ein Aufruf an Menschen, die dazu fähig sind, die eigene Stimme zu erheben für die, die sich selbst nicht helfen können.

Die Geschichte erzählt von Überwindung von Ausgrenzung und Todesstarre. Und sie erzählt von der Wiederherstellung eines Lebens in Heil und Frieden.

Die ältere Frau, deren Blutung gestillt wird, und das junge Mädchen, das gerade erst auf dem Weg ist, erwachsen zu werden, gehören zusammen. Beide erleben einen Stillstand. Und beide kommen wieder in Bewegung und ins Leben zurück. Die eine findet Kraft dafür in sich selbst: Sie rafft sich auf. Die andere braucht die liebevolle Fürsorge und Ansprache: Steh auf!

Und weil wir davon ausgehen können, dass diese beiden Geschichten nicht grundlos ineinander verschränkt erzählt werden, ahnen wir: das Sich-Aufraffen und Geheiltwerden der erwachsenen Frau ist wichtig dafür, dass auch das Mädchen aufstehen und gesund werden kann. Und beide brauchen die Berührung und Verbindung durch göttlichen Liebe.

Es ist ein Geheimnis der Wunder Jesu, dass in seiner Nähe eine Kraft frei wird, die Menschen aus der Umklammerung ihrer äußeren und inneren Begrenzung herauslöst und sie dem Leben zurückgibt. Die göttliche Liebe ist grenzenlos. Sie umarmt alle Menschen. Männer und Frauen. Mädchen und Jungen. Alte und Kinder. Die Tochter der Ortsprominenz und die Frau ohne Namen.

Lassen wir es zu, dass die Liebe in uns Raum gewinnt. Dass wir berührt werden von menschlicher Not. Lasst uns in Bewegung kommen und Hilfe holen, wo Menschen im Stillstand gefangen sind. Und geben wir auch uns selbst nicht verloren. Lassen wir uns von unserer Sehnsucht nach Heilung bewegen. Suchen wir die Berührung mit dem, von dem wir wissen: Hier ist Leben. Hier ist Heilung. Lassen wir uns nicht einreden, die Lage sei hoffnungslos. Sie ist es nicht. „Ich gehe mit dir“. Versprochen.

Übrigens: In der Legende ist der Frau, die Jesus berührt, ein Name zugewachsen: Veronika (oder Berenike – ist eigentlich der gleiche Name). Und er bedeutet: die Siegbringerin.

Dass wir als Siegbringerinnen und Siegbringer zurück ins Leben gehen und somit auch anderen diesen Weg ermöglichen, dazu segne, berühre, umgebe und verbinde uns die göttliche Liebe.

Amen.

Leben ist jetzt

Ich muss gestehen: als ich begann, den Spiegelartikel „Allein mit dem Virus“ (Nr. 19 / 8. Mai 2021) zu lesen, kamen mir kurz die Tränen. Und dann wurde ich wütend, als ich las: „Inzwischen sind längerfristige Studien erschienen, die belegen, dass sich die Pandemie massiv auf den Alltag von Kindern und Jugendlichen auswirkt.“ Wer erst langfristige Studien braucht, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, hat von Kindern und Jugendlichen keine Ahnung. Das lag doch auf der Hand. Aber die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren kurzsichtig und haben die Bedarfe und Rechte von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien nicht priorisiert. Ob das auch daran liegt, dass die politischen Entscheidungsträger rund um die Uhr beschäftigt und im permanenten Austausch mit ihresgleichen sind? Digital und auch analog? Und nicht mehr wissen, wie lang ein Tag, wie lang Wochen, wir lang Monate ohne die Erfahrung von Selbstwirksamkeit werden können? Und ohne die Aussicht auf ein Ende dieses Zustands?

Es wird viel über die Schulen geredet und was diese versäumt haben. Und ich kann das in weiten Teilen bestätigen. Aber ich weiß auch von Schulen und Lehrer*innen, die kreativ wurden und alles daransetzten, Wege zu finden, um die Kids und Jugendlichen, die wir ihnen anvertrauten, bei der Stange zu halten und durch die Krise zu bringen. Ihnen zu ermöglichen, was jetzt Wichtiges zu lernen, anderen zu begegnen, Spaß zu haben, Selbstwirksamkeit und „Gemeinschaftswirksamkeit“ zu erfahren. Ich habe allerdings auch davon gehört, dass Schulen in Deutschland tolle Ideen vorlegten, um Schule zu machen, aber dann wurden diese Ideen von der Politik ausgebremst. Begründung: Es darf keine Ausnahmen geben! Aha. Und warum nicht? Solche Erfahrungen ermüden und rauben allen Beteiligten die Kraft, die sie brauchen, um andere durch die Krise zu führen.

Übrigens halte ich persönlich die Unterscheidung „analog oder digital“, was den Schulunterricht selbst angeht, nicht für so entscheidend. Auf einer Reise durch Australien habe ich die „school of the air“ kennen gelernt. Ein Schulsystem, das schon seit hundert Jahren übers Internet (bzw. früher übers Radio) organisiert ist und zugleich mit dem privaten Lebensumfeld der Schülerinnen und Schüler kooperiert – und erfolgreiche Ergebnisse vorweist.

Wenn ich meinen Sohn frage, was ihm am meisten fehlt, so ist das übrigens nicht die Schule. Es ist seine Freizeit: Parcourstraining, Tanzschule, mit Freunden losziehen. Aus Selbstschutzgründen stellt er sich darauf ein, dass bis zu den Sommerferien mit nichts davon zu rechnen ist. Aber er und seine Freunde machen Pläne für den Sommer. Haben Spaß am gemeinsamen Planen: ein Pfadfinderlager, ein Sommerfest, eine Reise ans Meer…

Es ist erst Mai, doch meine Gedanken sind im Sommer. Und ich erwarte von der Politik, dass sie alles daransetzt, die Sommerferien von Kindern und Jugendlichen zu retten. Alles dafür zu tun, dass in diesen Sommerferien Sport- und Freizeitcamps, Sommerlager und von mir aus auch Lerncamps stattfinden dürfen. Analog. Wir haben die Mittel dazu in der Hand: Wir haben Freizeitheime, die sich nach Kinderfreizeiten und Kinderlachen sehnen – und die genügend Raum für eine vorgeschaltete Quarantänezeit in Kleinst-Gruppen haben. Wir haben Zeltplätze, deren Lagerfeuer auf Stockbrot warten und die genügend frische Luft liefern. Wir haben Sportplätze, die Freiraum bieten, um sich endlich mal wieder so richtig auszutoben. Wir haben Tests, wir haben Quarantänemöglichkeiten, wir haben Impfungen, und wir haben Zeit. Zeit im Überfluss! Gestalten wir sie! Lasst uns nicht länger so leben, als säßen wir im Wartezimmer. Leben ist jetzt. Auch mitten in der Pandemie. Wer weiß, vielleicht wird´s ja noch schlimmer? Vielleicht kommt ja noch ein Supervirus? Dann müssen unsere Kids erst recht ihre Krafttanks wieder aufgefüllt haben! Leben ist jetzt.

Und fragt nicht, wer das bezahlen soll. Es wird höchste Zeit, dass unser gemeinsames Geld dorthin fließt, wo es seine Wirksamkeit entfalten kann wie in sonst vermutlich keinem anderen Bereich: bei unseren Kindern und Jugendlichen.

P.s.: Und falls es der Politik mal wieder an kreativen Ideen fehlen sollte – ruft mich an. Oder die vielen anderen Kreativen im Land, die fast immer einen Weg finden, wenn man ihnen mal ein bisschen Freiheit lässt.

Ein Haus voller Menschen

Anfang März habe ich Geburtstag. Jedes Jahr wieder.

Am 11. März 2020 habe ich im letzten Jahr gefeiert. Nachgefeiert. Ich habe gerade so viele Freunde eingeladen, wie an unseren Tisch passen. 11 Menschen. Ich habe gekocht, festlich gedeckt, Kerzen angezündet und den besten Wein kredenzt, den ich hatte.

Von meinen meinen Gästen hatte ich mir schon im Voraus gewünscht, dass wir gemeinsam ein Lied singen und spielen: House with a crowded table. Diesen Song, den ich auf der RAD-Tagung im Februar 2020 zum ersten Mal gehört hatte und der mich tief berührte. Im September 2019 wurde es rausgebracht, von der amerikanischen Frauenband Highwomen – die Hohen Frauen – oder auch die Hohepriesterinnen. Und im RAD-Schlussgottesdienst wurde der Song so wunderbar von den RAD-Sängerinnen vorgetragen.

Wir haben das Lied bei mir zuhause an meinem großen runden Tisch dreimal gespielt. Zweimal geübt und einmal performed. Klavier, Gitarre, Bass, Cajon, Gesang… Nur für uns selbst. Richtig laut. Das ganze Haus war voller Klang. Und jedes Wort, das wir gesungen haben, meinten wir auch so. In Übersetzung:

„Ich will ein Haus mit einem Tisch voller Menschen, und einen Platz am Feuer für alle. Nehmen wir es mit der Welt auf, solange wir jung und fähig dazu sind. Und dann kommen wir wieder zusammen, wenn der Tag vorüber ist. Die Tür ist immer offen. Dein Bild hängt an meiner Wand. Jeder ist ein bisschen gebrochen. Aber jeder und jede gehört dazu.“

Corona war bereits am Rande Gesprächsthema, zu meinen Gästen gehörte auch ein Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank. Deren Belegschaft gerade ins Homeoffice geschickt worden war. Und wir diskutierten darüber, ob und wie dieses Virus unser Leben verändern könnte. Wenige Tage später kam der erste Lockdown.

Vielleicht, weil es der letzte Abend war, an dem ich mit Freunden gefeiert habe … Vielleicht, weil es das letzte Lied war, dass ich mit anderen zusammen gesungen habe … Ganz real. Ganz laut und nah beieinander … Jedenfalls geht mir das Lied seitdem nicht mehr aus dem Sinn. Und dazu dieses Bild von dem Tisch voller Menschen … Es ist für mich zu einem Hoffnungsbild geworden. Daran werde ich, Miriam, erkennen, dass die Krise vorbei ist: Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden wieder unbeschwert um einen Tisch herumsitzen und essen, reden, lachen, singen und feiern kann.

In Krisenzeiten entwickeln Menschen Hoffnungsbilder. Auch die Krisenbücher der Bibel sind voll von ihnen, allen voran die Offenbarung des Johannes. Kapitel 7: „Danach sah ich – sieh doch: eine große Menschenmenge. Niemand konnte sie zählen. Es waren Menschen aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen. Die standen vor dem Thron und vor dem Lamm. Sie trugen strahlend weiße Gewänder und hielten Palmenzweige in ihren Händen. Und sie sangen mit lauter Stimme ….“

Ein ähnliches Hoffnungsbild wie meines – eine singende Gemeinschaft – nur viel größer. Ein realer überdimensionaler Gottesdienst, zu dem Hunderthausende kommen und feiern.

Nun kann es natürlich sein, dass wir hier in eine Falle tappen und in der Krisenzeit daraufsetzen, dass es danach wieder so wird wie früher, nur noch viel schöner und größer. Dabei können wir noch nicht wissen, wohin uns die Krise führen wird. Wie unser Leben, wie unsere Gesellschaft, wie unsere Kirche nach der Krise aussehen wird. Wir wollen, dass es gut wird. Aber wie dieses Gut aussieht – das wissen wir noch nicht. Was also ist jetzt zu tun?

Der Text der zweiten Strophe des Songs House with a crowded table lautet übersetzt:

„Wenn wir einen blühenden Garten wollen, müssen wir Blumen säen. Etwas Glück pflanzen und es tief wurzeln lassen. Und wenn wir Liebe säen, werden wir Liebe ernten.“

Ich kann nicht wissen, wie das wachsen wird, was ich jetzt säe. Aber ich säe. Ich weiß noch nicht, wie der Garten später aussehen wird. Aber ich will gute Saat aussähen. Für die Zeit danach. Ich will auf Zukunft hin entscheiden und handeln.

Die stärkste Eigenschaft von Hoffnungsbildern ist: dass sie jetzt schon unsere Verhalten bestimmen. Mein Hoffnungsbild leitet mich: Ein Haus mit einem Tisch voller Freunde – in welcher Form auch immer. Daran werde ich erkennen, dass die Krise vorbei ist. Und was tue ich schon jetzt? Ich pflege meine Freundschaften – noch mal ganz neu. Reaktiviere manche Beziehungen. Ändere in manchen Freundschaften die Dimension, stelle sie auf eine neue, tiefere  Basis. Und freue mich schon jetzt auf auf ein Wiedersehen, nicht nur im kleinen, sondern im großen Kreis!

Woran wirst du erkennen, dass die Krise vorbei ist?

Woran werden wir als Gesellschaft erkennen, dass die Krise vorbei ist?

Was ist dein Hoffnungsbild?

Was leitet dich im Denken und im Tun?

Liebe voller Gott, du weißt, wonach wir uns sehnen … All unseren Dank für das, was uns jetzt an Gutem gegeben ist, und all unseren Schmerz über das, was uns fehlt, und all unsere Hoffnung auf das, was uns in die Zukunft zieht, nehmen wir uns zu Herzen und gehen mutig weiter.